Der Bahnhof Kamalapur ist Endstation für viele Züge in Bangladesch. Als zentraler Verkehrsknotenpunkt ist er Zielort für Züge aus allen Himmelsrichtungen. Sie transportieren täglich tausende von Menschen in die Hauptstadt Dhaka, in ihren überfüllten Abteilen, und wenn da kein Platz mehr ist, auch auf dem Dach. Auf dem Bahnhof Kamalapur steigen die Passagiere alle aus. Manche steigen um. Und manche bleiben einfach dort. Der Bahnhof Kamalapur ist manchmal auch für Menschen Endstation. So war es bei Prantik.
Prantik lebte auf dem Bahnhof Kamalapur, bis er sieben war. Ob er jemals ein anderes Zuhause hatte, weiß er nicht. Alles, woran er sich erinnern kann, ist ein Leben am Zentralbahnhof. Dort verbrachte er seine Tage mit der Suche nach Essbarem, bot sich Händlern als Zeitungsverkäufer und Reisenden als Kofferträger an. Dort verbrachte er seine Nächte auf einem Pappkarton, am Rand eines Bahnsteigs eng an die anderen Straßenkinder gerückt. Die Gruppe, sie half ihm gegen die Kälte der Nacht. Und sie war ein wichtiger Schutz gegen die Gefahren, die einem kleinen Jungen am Bahnhof drohen können, von Rattenbissen bis hin zu Entführung und Missbrauch. Der Bahnhof von Dhaka war Prantiks Zuhause, solange er denken kann.
Dass er tatsächlich eine Familie hat, eine Mutter, Geschwister, das erfuhr Prantik erst viel später.
Die Weichen gestellt
Ich treffe Prantik in der Children´s City Panchagarh, einem Zentrum für ehemalige Straßenkinder unseres Kindernothilfe-Partners. Hier, im äußersten Norden Bangladeschs, lebt Prantik seit sieben Jahren – sein halbes Leben lang. Sein Weg vom Bahnhof Kamalapur in die Children´s City war kein gradliniger. Er war anfangs äußerst skeptisch, als ein Sozialarbeiter ihn am Bahnhof ansprach. Das Leben zwischen den Gleisen hatte ihn gelehrt, vorsichtig zu sein. Er wusste, dass Kinder immer wieder plötzlich verschwanden, hatte gehört von Banden, die Geld dafür bekamen, Kinder zu verkaufen. Nur allmählich überwand er sein Misstrauen. Es dauerte Wochen, bis er erstmals der Einladung in ein Tageszentrum für Straßenkinder in Dhaka folgte. Und dort irgendwann die Entscheidung traf: Ja, ich will weg vom Bahnhof. Die Weichen waren gestellt.
Da hatte er schon erfahren, dass er eine Mutter hat, die lebt. Und eine Schwester. Die Sozialarbeiter hatten sich für ihn auf die Suche gemacht und stellten den Kontakt zu seiner Herkunftsfamilie her. Prantik fuhr hin, hat sie kennengelernt. „Aber die Leute dort haben mich verspottet. Das hat wehgetan.“ Mehr will er davon nicht erzählen. Stattdessen schildert er, wie er das erste Mal in die Kinderstadt nach Panchagarh kam. Wie er wieder weglief, als die anderen Jungen Besuch von ihrer Mutter bekamen und er es vor Heimweh nach den anderen Straßenkindern am Bahnhof Kamalapur kaum aushielt. Und wie er schließlich wiederkam und dann bei seiner Entscheidung für die Children´s City blieb.
Eine Stadt für Kinder
Hier lebt er jetzt auf dem großen Gelände der Kinderstadt mit all den anderen Jungen. Sie sind zwischen 8 und 18 Jahren, und alle gehörten sie zu den 1,3 Millionen Kindern, die in Bangladesch auf der Straße leben. In Panchagarh haben sie nicht nur einen sicheren Ort, und in ihrer Wohngruppe, in der sie je zu vierzig leben, ein neues Zuhause gefunden. Hier erproben sie sich beim Fußballspielen genauso wie beim Bepflanzen der Gemüsefelder, die das Grundstück umgeben, nutzen die Tage zum Singen, Toben und Lernen. Der Bahnhof ist hier weit fort.
Momentan besucht Prantik die 6. Klasse der kleinen Schule auf dem Compound. Wenn er die geschafft hat, erzählt er mit einem beinah verlegenen Lächeln, will er Arzt werden. „They saved my life“ sagt er und macht dabei eine umfassende Geste. Sie umfasst mehr als das kleine Büro des Zentrums, in dem wir gerade sitzen, mehr als seine Wohngruppe mit der Hausmutter und den anderen Jungs, die für ihn zur Familie geworden sind. Sie umfasst die ganze Kinderstadt und diejenigen, die sie ermöglicht haben. Ihnen will er etwas zurückgeben von dem, was ihn gerettet hat. Prantik will zeigen, dass der Bahnhof Kamalapur für ihn keine Endstation war.