Retterin aus Seenot: Mein Besuch auf der Humanity 1

Als 2013 über 300 Menschen vor Lampedusa ertranken, war das Entsetzen in der EU groß: „So eine Tragödie darf nie wieder vor einer europäischen Küste passieren“, hieß es damals. Zehn Jahre später steht die italienische Insel wieder im Rampenlicht, weil sie die Menge der ankommenden Geflüchteten nicht mehr versorgen kann. Gleichzeitig ertrinken im Mittelmeer jeden Monat etwa 200 Menschen. Die einzigen Retterinnen aus Seenot sind Schiffe der Zivilgesellschaft. Eines davon, die Humanity 1, durfte ich besuchen.

Katrin Weidemann am Bug des Rettungsschiffes
Schiffsbesichtigung im Hafen von Syrakus

Die Menschlichkeit macht gerade Pause. Das Seenotrettungsschiff Humanity 1 liegt im Hafen von Syrakus auf Sizilien vor Anker. Dort, wo Europa endet und auf der anderen Seite des Mittelmeers Afrika beginnt, ist das Schiff der deutschen Nichtregierungsorganisation SOS Humanity als Lebensretterin unterwegs. Seit August 2022 kommt die Crew in Seenot geratenen Geflüchteten zu Hilfe: 1.608 Männer, Frauen und Kinder hat sie dabei in ihren Einsätzen bereits aus gekenterten Schlauchbooten, lecken Fischerkähnen oder anderen fahruntüchtigen Gefährten an Bord genommen.

Heute bin ich auf der Humanity 1 zu Gast. Zwei Tage lang lerne ich die Crew und ihre Arbeit kennen. Und bin am Ende nicht nur vom beständigen Rollen und Schaukeln des Schiffes ganz schön bewegt.

Vor allem nachts im Einsatz

Till Rummenhohl ist seit acht Jahren in der zivilen Seenotrettung aktiv, seit 2022 Geschäftsführer von SOS Humanity. Zusammen mit Kapitän Josh führt er mich über das 60 Meter lange ehemalige Forschungsschiff. „Die meisten Flüchtlingsboote starten bei Sonnenuntergang“ erzählt er. „Deshalb finden auch die meisten Bergungen nachts statt.“ Bergungen im Dunkeln, bei starker Dünung, sind nicht ungefährlich. Doch die meisten Boote sind manövrierunfähig, völlig überladen, mit leerem Tank. Für ihre Insassen kommt die Bergung in buchstäblich letzter Minute.

Wenn der Wachposten an Bord ein Boot in Seenot entdeckt, muss es darum schnell gehen. Mit dem schiffseigenen Kran werden die zwei RHIBs, schnelle Festrumpfschlauchboote, ins Wasser gelassen. Mit ihnen macht sich ein Rettungsteam dann auf den Weg, sichtet die Lage, nimmt Kontakt auf. „Die Aufregung ist meist groß und unsere Teammitglieder versuchen in verschiedenen Sprachen, die Bootsinsassen zu beruhigen.“

Im Fall von Seenot muss jeder Handgriff sitzen

Rettung von Leben ist das oberste Gebot. Darum werfen die Seenotretter als erstes Westen hinüber, bringen dann mit einem der RHIBs die ersten Menschen zur Humanity 1, während das zweite RHIB vor Ort aufpasst, dass niemand ins Wasser fällt.

Rettungsaktion mit Schlauchboot auf hoher See
Bei der Bergung muss jeder Handgriff sitzen.

Die Abläufe an Bord bei Ankunft der Survivors, wie sie die aus Seenot Geretteten nennen, sind von der Crew hundertfach geprobt und eingeübt. Jeder Handgriff soll sitzen und Sicherheit geben. Eine erste medizinische Einschätzung geschieht gleich beim Betreten der Humanity. Menschen mit Knochenbrüchen oder solche mit offenen Brandwunden, wie sie oft durch die Kombination von Salzwasser und Benzin im Fußraum der Boote verursacht werden, kommen in die Krankenstation. Die anderen werden kurz registriert („Wir fragen nicht nach den Namen, nur nach Herkunftsland und Alter. Die offizielle Registrierung erfolgt ja erst an Land.“) und erhalten dann einen Beutel mit ihrer persönlichen Erstausstattung: Trainingsanzug, T-Shirt, Unterhose, Wasserflasche, Zahnbürste, Handtuch. Obendrauf noch ein Paket mit hochkalorischen Trockenkeksen. Das ist es.

Safe Space für Frauen und Kinder

Die Frauen verschwinden meist sofort in der für sie reservierten Station. Sie liegt im Inneren des Schiffs und ist tatsächlich nur für Frauen und Kinder zugänglich. Auch die Crew hält sich daran. Während die Männer nachts dicht an dicht in langen Reihen an Deck übernachten, sind Frauen und Kinder in diesen sicheren Räumen im Schiffsbauch untergebracht. Sie wurden mit Unterstützung der Kindernothilfe als „Safe Space“ ausgestattet.

„Wir hatten schon gerettete Frauen und Mädchen an Bord, die drei oder vier Tage lang diese Station nicht verlassen haben“ erklärt Till. Für sie ist der Raum, nach dem Albtraum der Seenot und anderen Albträumen davor, oft der erste geschützte Ort seit Monaten. Hier können sie wirklich schlafen, ohne zu befürchten, in der Nacht misshandelt, gefoltert oder gar getötet zu werden. Manche der Frauen sind vor einer Zwangsheirat geflohen, wurden auf der Flucht vergewaltigt. Andere haben sich mit ihren Kindern auf den Weg gemacht, mit Töchtern, denen die grausame Tradition der Genitalverstümmelung drohte. Eine Hebamme ist deshalb bei jedem Einsatz mit an Bord, als Beraterin, manchmal Geburtshelferin, und immer als erste wichtige Ansprechpartnerin für die traumatisierten Frauen.

Respekt und Menschlichkeit
Mann wirft Rettungsring von einem Boot. Im Hintergrund ein Seenot Kreutzer
Leben zu retten ist oberstes Gebot.

Die Crew der Humanity 1 ist international, ihre Mitglieder stammen aus Italien und Nigeria, aus Frankreich, Polen, oder Deutschland. Was sie motiviert, ist der Notruf Mayday, abgeleitet vom Französischen m´aider – hilf mir. Er ist in der Schifffahrt internationaler Standard, Wer diesen Hilferuf hört, muss zu Hilfe eilen. Was die Crewmitglieder verbindet ist ihre Haltung, jeden aus Seenot Geretteten mit Würde zu behandeln. Den Schutzsuchenden, die oft vor Folter, Gewalt und Ausbeutung fliehen, begegnen sie an Bord mit Respekt und Menschlichkeit. Und leben damit das, was ihrem Schiff den Namen gibt: Humanity.

Ist das Recht auf Asyl in Seenot?

Was ich während meiner Zeit an Bord erlebe, es könnte die Umsetzung dessen sein, was die Ampelkoalition vor zwei Jahren in ihrem Regierungsprogramm „Mehr Fortschritt wagen“ angekündigt hat. Demnach wollen die Unterzeichnenden „die Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden“, erklären zudem, „die zivile Seenotrettung darf nicht behindert werden“, und dringen darauf, „dass Menschen nach der Rettung an sichere Orte gebracht werden“.

Im Herbst 2023 klingen die politischen Debatten anders. Da ist von Abschottung und „Integrationsgrenzen“ die Rede, die Zusammenarbeit mit den gewalttätigen Milizen in Libyen wird verharmlost und jene mit sogenannten sicheren Drittstaaten wie Tunesien, in denen Geflüchtete nachweislich misshandelt und entrechtet werden, empfohlen. In Europa ist immer unverhohlener die Rede davon, das individuelle Recht auf Asyl auszuhöhlen oder ganz abzuschaffen. Das widerspricht der Genfer Flüchtlingskonvention und den Werten, auf die sich die EU-Mitgliedsstaaten in ihrer Grundrechtecharta verpflichtet haben.

In den politischen Debatten Europas, scheint es mir, macht die Menschlichkeit gerade Pause. Hier im Hafen von Sizilien wird die Humanity 1 nur noch wenige Tage vor Anker liegen. Dann wird sie wieder in See stechen, um zu sichten, um aus Seenot zu retten. Und für eine Menschlichkeit zu stehen, die sich von den Schicksalen der Schutzsuchenden berühren und bewegen lässt.

Katrin Weidemann blickt von Deck auf See

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Autor: Katrin Weidemann

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