Hunderttausende Ukrainerinnen und Ukrainer fanden und finden in der kleinen Nachbarrepublik Moldau Zuflucht. Hier fallen keine Bomben. Doch die Geschichten, die die Menschen aus dem Krieg mitbringen, rauben ihnen den Schlaf. Und die Sorge um die Männer, Brüder und Onkel, die in der Ukraine geblieben sind.
Wilde Weinreben ranken sich um den luftigen Pavillon. In moldawischen Tudora, im Zentrum unseres Kindernothilfe-Partners CONCORDIA Sozialprojekte, treffe ich mich mit einer Gruppe aus der Ukraine Geflüchteter. Ich staune: Bei den gut 30 Frauen und Kindern sitzen auch drei Männer. Ich schätze ihr Alter auf Mitte vierzig. Gilt nicht seit Kriegsbeginn in der Ukraine ein Ausreiseverbot für unter 60-jährige Männer? Doch, bestätigt einer von ihnen auf meine Frage hin. Aber nicht nur Kranken, sondern auch Vätern von mindestens drei Kindern ist es erlaubt, die Ukraine zu verlassen. Deshalb sind sie hier. In Moldau.
Was die Katzen in Tudora alles über den Krieg zu hören bekommen
Manche der Familien kamen schon vor fünf Monaten an, andere sind erst seit zwei oder drei Monaten in der Republik Moldau. Es sieht fast wie eine Idylle aus: Um uns herum blüht der weitläufige Garten des Zentrums, vom Nachbargrundstück glänzt das blaue Dach der örtlichen Kirche im Sonnenlicht herüber. Junge Kätzchen balgen sich unter einem Stuhl. Ein Mädchen hält eine der Katzen fest im Arm, streichelt sie immer wieder, während die Erwachsenen erzählen.
Aber was sie erzählen! Es sind schwere Geschichten, die sie mitgebracht haben. Niemand in der Runde ist freiwillig hier. Es ist die Erfahrung von Bombennächten und langen Wochen im Bunker, von zerstörten Häusern, von toten Nachbarn und getöteten Familienangehörigen, die sie in die Flucht trieben. Geschichten vom Krieg, die oft auch die Kinder seit ihrer Ankunft den kleinen Katzen ins Fell geflüstert haben.
Trotz Armut ein Zufluchtsort für viele
Die Republik Moldau ist eines der ärmeren Länder Europas. Schon vor dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine war es schwer, sich in Moldau eine Lebensperspektive aufzubauen. Kein anderes Land schrumpft so schnell wie dieser kleine Staat. Jetzt nimmt keiner – im Vergleich zur eigenen Größe – so viele ukrainische Geflüchtete auf. Während fast ein Drittel der Moldauerinnen und Moldauer im europäischen Ausland leben, haben seit Februar mehr als eine halbe Million Menschen aus der Ukraine in der Republik Moldau Zuflucht gefunden. Für die vor dem Krieg Fliehenden ist der kleine Staat ein sicherer Ort. Weit genug entfernt vom Kampfgeschehen, um nachts sicher vor den Bomben zu sein. Zugleich nah genug an ihrer Heimat, um schnell wieder zurück zu können.
Krieg ist, wenn das Telefon ins Leere klingelt
Ja, die Kommunikation mit ihren Familienangehörigen in der Ukraine funktioniere, bestätigt eine Frau in der Runde, trotz Krieg. Meistens zumindest. Die Ehemänner und Brüder allerdings, die in der Armee kämpfen, sind nur am Wochenende erreichbar. „Können Sie sich vorstellen, wie das ist, die ganze Woche zu warten und Angst zu haben, dass am Sonntag das Telefon ins Leere klingelt?“
Ob die Schule in der Heimat noch steht?
Marias Mann ist nicht in der Armee. „Er muss Geld verdienen, wenigstens einer von uns.“ Sie selbst hat vorher in Odessa als Event-Managerin gearbeitet. Vorher heißt: vor dem Krieg. Aus dem ganzen Land bekam sie Aufträge, organisierte Veranstaltungen auch für mehrere hundert Menschen. Diese Erfahrung hat sie in Kriegszeiten in Odessa als Freiwillige eingebracht, bei der Ausgabe von Lebensmitteln zum Beispiel. Bis zum Schluss wollte sie in ihrer Heimat bleiben, durchhalten, zusammenhalten.
Im Mai reiste sie schließlich doch mit ihren drei Kindern nach Tudora. Der älteste Sohn ist siebzehn, die jüngste Tochter Lisa sieben. Sie sitzt neben ihrer Mutter, hat noch leicht verschlafene Augen. Am Vormittag war sie mit anderen Kindern auf einer langen Wanderung zu einem See, hat sich danach mit dem Kätzchen im Zentrums-Garten müde gespielt. Sie hat hier Freundinnen und Freunde gefunden, nimmt mit den im Projekt angeschafften Tablets am Online-Unterricht ihrer Schule teil.
Ob das nach den Sommerferien auch noch möglich ist? 2.300 Bildungseinrichtungen in der Ukraine wurden bislang durch Bombardierung und Beschuss beschädigt, etliche hat der Krieg vollständig zerstört. Das Team des Kindernothilfe-Partners plant darum zusammen mit den Eltern, im Herbst Präsenzunterricht im Zentrum anzubieten. Eine Organisationsaufgabe auch für Maria. Ihr fällt es zunehmend schwer, hier zum Warten verdammt zu sein. Sie ist froh, dass es wenigstens die regelmäßigen Treffen mit den anderen Familien im Zentrum gibt, gemeinsame Mahlzeiten, Gesprächsrunden.
Ein Haus im Maisfeld
Noch mal anders wohnen die Frauen einige Kilometer entfernt in dem Häuschen von Monica. Es ist ihr Elternhaus, das hier am Rande von Mais- und Sonnenblumenfeldern steht, sie hat es unserem Partner für Geflüchtete zur Verfügung gestellt. Aus Lehm und Stroh gebaut, nachträglich mit einer Stromleitung versorgt, beherbergt es aktuell vier Familien mit zwei Kindern. In drei winzigen Kammern schlafen sie jeweils zu zweit.
Kennengelernt haben sich die Familien erst hier, jetzt bilden sie eine vom Krieg zusammengewürfelte Wohngemeinschaft unter widrigsten Umständen. Wie es für sie sei, hier zusammen in diesem Häuschen zu wohnen, frage ich sie. „Haus ist Haus“, meint Anja aus Odessa. Ich sehe ihr an, wie sie sich bemüht, nichts Negatives über ihre Unterkunft zu sagen. Wasser zum Kochen holen sie in Eimern aus dem Vorgarten, ihre Toilette ist ein Holzverschlag hinter dem Haus. Ein Badezimmer gibt es nicht, für die Kinder haben sie eine blaue Plastikbadewanne angeschafft.
Hier fallen keine Bomben
Wir stehen auf dem mit Weinranken überdachten Vorplatz des Hauses. „Haus ist Haus“, wiederholt Anja, die aus der Großstadt kommt. Das heißt: Es ist gut, wie es ist, danke. Ja, es ist eine Umstellung für sie, hier mitten zwischen Maisfeldern in einem Häuschen wie vor 100 Jahren zu leben. Ja, es ist eine totale Veränderung, von der Millionenstadt Odessa in diese abgelegene dörfliche Gegend eines Landes zu ziehen, das insgesamt weniger als drei Millionen Einwohnerinnen und Einwohner hat. Und ja, es braucht viel Abstimmung und Rücksichtnahme, um ohne jede private Rückzugsmöglichkeit mit Fremden auf engstem Raum zusammenzuwohnen. Aber nein: Beschweren will sie sich nicht. Sie will erst mal hier bleiben. Denn hier fallen – anders als im Krieg in Odessa – keine Bomben.
Während ich mich mit den Frauen unterhalte, beginnt eine von ihnen auf dem zweiflammigen Gaskocher, das Abendessen vorzubereiten: gebratene Auberginen. Gemeinsam haben sie das Gemüse in dem Gärtchen vor dem Haus selbst angebaut. Lebensmittel- und Hygienepakete unseres Partners helfen ihnen mit den Dingen, die sie sonst noch brauchen. Ab und an fahren sie ins 40 Kilometer entfernte Stefan Voda zum Einkaufen. Das Geld dafür schicken ihre Männer, die noch in der Ukraine arbeiten. Sie wissen nicht, wie lange noch.