Cox´s Bazar war schon immer ein Zufluchtsort. Heute leben dort Hunderttausende Rohingya im größten Flüchtlingslager der Welt. Mit brutaler Gewalt wurden sie aus dem Nachbarland Myanmar vertrieben. Doch nicht nur die Geflüchteten brauchen dringend Hilfe…
Die Sonne scheint golden über dem Meer bei Cox´s Bazar. Der Ort liegt knapp 400 km von der Hauptstadt Dhaka entfernt, mit dem Flieger in einer knappen Stunde zu erreichen, wer den Bus nimmt, ist gut 14 Stunden unterwegs. Als ich hier, im äußersten Südosten Bangladeschs, ankomme, erinnert nichts mehr an den Lärm und die Enge der 17-Millionen-Megacity. Die Landschaft ist zauberhaft. So kam der Ort wohl zu seinem ehemaligen Namen, der die tropisch blühende Schönheit dieser Küstenregion aufgreift: Panowa, übersetzt „gelbe Blume“.
Cox´s Bazar war schon immer ein Zufluchtsort
Der heutige Name dagegen ehrt einen Mann, der sich vor 220 Jahren als britischer Offizier für die friedliche Koexistenz von Flüchtlingen und ansässiger Bevölkerung in diesem Gebiet einsetzte. Es ist erstaunlich: Der Grund, weshalb wir uns als Kindernothilfe im Jahr 2019 hier engagieren, ist der gleiche, weshalb Captain Hiram Cox im ausgehenden 18. Jahrhundert nach Panowa entsandt wurde: Damals wie heute sind es Menschen, die vor Verfolgung und Gewalt geflohen sind und Schutz suchen.
Als „compassionate soul“ beschreiben Zeitzeugen den Namensgeber von Cox´s Bazar.
Zu Cox´s Zeiten flüchteten Tausende vor dem Bürgerkrieg in Burma, dem heutigen Myanmar, ins benachbarte Panowa. Hier trafen sie auf die seit Generationen ansässigen Vertreter der Rohingya Volksgruppe. Als erste Konflikte zwischen Einheimischen und Geflüchteten drohten und zusätzlich plündernde Piraten die Sicherheit der Küstenbewohner gefährdeten, beauftragte die East India Company Captain Cox mit der heiklen Mission, für Ruhe zu sorgen.
Als „compassionate soul“, wie ihn Zeitzeugen beschreiben, erwarb er sich rasch das Vertrauen vor allem der ansässigen Rohingya und trug wohl auch zur Befriedung bei. Fest steht, dass nach seinem Tod 1798 mit großer Zustimmung der Bevölkerung der neu errichtete Marktplatz der „gelben Blume“ Cox´s Bazar benannt wurde.
Auffanglager für geflüchtete Rohingya
Im Zentrum der humanitären Krise, die sich heute rings um Cox´s Bazar ereignet, stehen wieder Angehörige der Rohingya. Mit einem Unterschied: Bildeten die staatenlosen Rohingya damals die Mehrheit der ortsansässigen Bevölkerung, sind sie heute diejenigen, die nach jahrzehntelanger Diskriminierung, vor allem aber nach den Gewaltausbrüchen und ihrer brutalen Verfolgung vor zwei Jahren aus Myanmar nach Bangladesch flohen.
So entstand bei Cox´s Bazar mit Kutupalong das größte Flüchtlingslager der Welt. Zu den 200.000 Rohingya, die hier bereits vor 20 Jahren einen sicheren Ort und neue Bleibe gefunden haben, kamen seit August 2017 weitere 800.000 Menschen dazu.
Das veränderte nicht nur die Stadt Cox´s Bazar, die vom idyllischen Badeort für reiche Bangladescher zum Hotspot der internationalen NGO-Szene wurde und um das Fünffache ihrer Bevölkerung anwuchs. Es hat auch massive Auswirkungen auf das Leben der Menschen, die in den vielen kleinen Dörfern rings um das Flüchtlingslager leben: sie haben plötzlich eine Million neue Nachbarn! Bevor ich morgen unsere Kindernothilfe-Projekte im Flüchtlingscamp besuche, treffe ich heute einige Vertreter der Dörfer im Umland.
Tag für Tag, Taka für Taka
Die erste Dorfgemeinschaft erwartet uns bereits in einer kleinen Hütte. Auf bunten geflochtenen Matten sitzen uns gut 20 Frauen und Männer gegenüber. Die meisten von ihnen sind Tagelöhner, erzählen sie, sie verdingten sich als Fischer, als Arbeiter auf den umliegenden Reisfeldern oder als Helfer bei der Gemüseernte. So hätten sie es ihr Leben lang gehalten, damit zwar keinen Reichtum erworben, aber doch ihr Auskommen gehabt.
500 Taka, erfahre ich, sei der übliche Lohn für einen Arbeitstag gewesen, umgerechnet rund 5 Euro. Damit konnten sie leben. Zumindest bis vor zwei Jahren, dann kamen die Rohingya. Seitdem, erklärt mir einer der Fischer, ist der Lohn um 300 Taka gesunken. Denn die Nachbarn aus dem Flüchtlingscamp sind eine starke Konkurrenz.
Zu wenig Arbeit für zu viele Menschen
Offiziell dürfen sie als Flüchtlinge gar nicht arbeiten, aber für Gelegenheitsjobs stehen sie dennoch dankbar und willig bereit. Sie sind heilfroh für alles, womit sie ihre notwendigste Grundverpflegung, die sie im Lager erhalten, anreichern können und froh, wenn ihre erzwungene Untätigkeit unterbrochen wird.
So kommt es, erfahre ich, dass für jeden Dorfbewohner, der Arbeit sucht, jetzt 5 arbeitswillige Rohingya bereit stehen, die den niedrigen Tageslohn von 200 Taka akzeptieren. Für den Lebensunterhalt einer Familie aus dem Dorf, die zwei bis drei, oft aber auch acht oder zehn Kinder ernähren muss, ist das zu wenig.
Die wirtschaftliche Not geht vor allem auf Kosten der Kinder
Ähnliches erfahre ich auch von den Gemeindevertreterinnen und -vertretern im nächsten Dorf. Eindringlich erzählen sie von den Plätzen, an denen sie früher Brennholz gesammelt hätten – sie seien wie leergefegt, weil eben auch die Rohingya Feuerholz für ihre täglichen Mahlzeiten bräuchten, was sie ja verstünden, aber jetzt sei eben nichts mehr für sie selbst da und um die wenigen Bestände käme es immer öfter zu Streitigkeiten.
Für die Kinder in den Dörfern sind die Veränderungen bereits deutlich spürbar. „Meine Tochter, die in die Sekundarschule in Chittagong ging, muss jetzt zu Haus bleiben“, berichtet eine Mutter. „Wir können uns das Schulgeld nicht mehr leisten.“ Der Besuch der Primarschule im Dorf für die jüngeren Kinder ist frei, auch die Bücher werden von der Schule gestellt. „Aber Stifte, Hefte, Kleidung und Verpflegung, das alles müssen wir ja bezahlen“. Das gelingt nicht mehr allen Eltern, die vor mir im Kreis sitzen.
Geflüchtete Rohingya und Einheimische: Ideen für eine friedliche Koexistenz
Wie sie ihre Situation verändern können, welche neuen Einnahmequellen sie sich erschließen und die Versorgung ihrer Kinder sicherstellen, dazu haben sie mit unserem Kindernothilfe-Partner bereits erste Ideen gesammelt. Die Zucht von Hühnern, Murgi, spielt dabei eine Rolle, oder das Flechten von kleinen Hockern aus Bambus, der hier hinter jeder Hütte wächst.
Als wir abends zurück nach Cox´s Bazar fahren, ist die Entscheidung längst getroffen: Neben der humanitären Hilfe für Rohingya-Kinder im Flüchtlingslager werden wir auch im Umfeld des Camps Gemeinwesen-Entwicklungsprojekte unterstützen. Denn was Captain Cox vor über 200 Jahren ansatzweise versuchte, hat sich mittlerweile zu einem Grundprinzip der Humanitären Hilfe entwickelt: Das Konzept des do no harm („Richte keinen Schaden an“) achtet auf die konfliktsensible Durchführung von Hilfsmaßnahmen.
Was hier im Süden Bangladeschs heißt, dass wir nicht nur die eine Million geflüchtete Rohingya im Blick haben, sondern auch die lokale Bevölkerung. Denn Kinder und ihre Familien haben die gleichen Rechte: im Flüchtlingslager und außerhalb.