Ein Viertel ohne Angst wünschen sich die jungen Erwachsenen aus Rio Vermelho in Salvador da Bahia. Einen Ort, wo weder Drogenbanden noch Polizeigewalt herrschen. Was für uns Selbstverständlichkeiten sind, davon können sie nur träumen. Ein Medien-Workshop hilft ihnen, ihr Selbstbewusstsein zu stärken und für ihre Träume zu kämpfen.
Gerade noch gab es Reis, braune Bohnen und Tomatensalat in dem hell gefliesten Besprechungssaal der Schule. Jetzt sitze ich mit mehr als 20 Jugendlichen in einem Klassenzimmer zum nachmittäglichen Workshop. „Medien und Kommunikation“ steht als Thema auf der Tafel. Die Mädchen und Jungen sind voll fröhlicher Vorfreude, sie wissen genau, was sie erwartet: Heute geht es um Selfies!
Das Konzept des Workshops hat unser brasilianischer Kindernothilfe Partner zusammen mit jungen Erwachsenen entwickelt. Als Bestandteil eines Projekts zur Verringerung häuslicher Gewalt kommt es in städtischen Brennpunktschulen zum Einsatz, so wie hier im Südosten der Großstadt Salvador da Bahia in Rio Vermelho.
Ein Viertel, eng wie ein Schuhkarton
85.000 Menschen leben in dem Viertel rund um die Lehranstalt, viele von ihnen haben afrikanische Wurzeln. Während nur ein paar Straßenzüge entfernt strahlend weiße Hochhäuser mit Meerblick in den Himmel ragen, drängen sich hier Häuser, die mit einfachsten Mitteln erbaut wurden, in engster Nachbarschaft. Bei der Fahrt durch die verwinkelten Straßen des Viertels habe ich nicht die kleinste Freifläche, keinen einzigen unbebauten Platz entdeckt. Spiel- und Sportmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche? Gibt es schlichtweg nicht. Dabei ist die Hälfte der Bewohner des Viertels jünger als 25 Jahre.
Unter welch bedrückenden Umständen sie leben, davon erfahre ich im Workshop. In Kleingruppen tragen die Jungen und Mädchen zusammen, was sie später in ihrem Selfie-Videoclip präsentieren wollen. Intensiv diskutieren sie ihre Gedanken zu Fragen wie „Wozu gehöre ich?“ „Was soll in meinem Stadtteil besser werden?“ und „Was ist mein Beitrag dazu?“
Mehr Schusswaffen als Waschmaschinen
Die meisten von ihnen haben Rio Vermelho noch nie verlassen, ihr Viertel und seine Probleme kennen sie bestens. Sie wissen, dass hier mehr Menschen eine Schusswaffe besitzen als eine Waschmaschine. Sie erleben, dass kaum eine Woche vergeht, in der es nicht zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt. Das scheinbar unaufhörliche Sterben von Mitschülern und Freunden ist brutaler Teil ihres Alltags.
„Hier in diesem Stadtteil aufzuwachsen bedeutet, ein Schild vor sich herzutragen, auf dem steht „Ich bin ein Gangster“. Viele aus der Workshop-Runde klatschen, als Paulo, ein schmaler Vierzehnjähriger, das mit ruhiger Stimme sagt. Sie nicken, weil sie wissen, dass alle Bewohner mit Vorurteilen zu kämpfen haben. Wer sich von hier aus auf eine Stelle bewirbt, wird im Bewerbungsverfahren meist allein aufgrund seiner Anschrift gar nicht erst berücksichtigt.
Ständige Angst, auch vor der Polizei
Zu ihrem Leben im Viertel, auch da sind sich alle einig, gehört die Angst. Laura zählt an ihren Fingern auf, was ihr im Stadtteil am meisten Angst macht. Erstens: Selbst zu sterben. Zweitens, dass ihre Mutter, ihr Vater und ihre Geschwister erschossen werden. Und drittens, dass sie alle Opfer eines Polizeieinsatzes werden.
Elf Polizei-Einsatzstellen gibt es im Stadtviertel. Die Polizisten als Freund und Helfer zu sehen, darauf käme hier allerdings niemand. Die Männer in Uniform sind dafür berüchtigt, überfallartig in die Armenviertel einzufallen. Eine Nachbarschule, erzählt Workshop-Teilnehmerin Rebecca, wurde vor kurzem von Polizisten komplett verwüstet. „Sie kamen ganz plötzlich und haben alles kurz und klein geschlagen.“ Eine Woche lang sei das Viertel danach komplett von der Außenwelt abgeschnitten gewesen. Sieben Tage lang hätte die Polizei Razzien durchgeführt, unzählige Jugendliche verhaftet, sie gefoltert. „Am Ende waren zwölf Jugendliche tot.“
Ein Medien-Workshop als Empowerment
Es sind Geschichten wie diese aus Salvador da Bahia, die ich bei meinem Projektbesuch in den Großstädten Brasiliens immer wieder zu hören bekomme. Erschreckende Geschichten von massiver Gewalt, die Kinder und Jugendliche erleben: zu Hause, in der Schule, durch Drogenhändler, die ganze Stadtviertel in rechtsfreie Räume verwandeln, und auch durch staatlichen Institutionen.
Medien-Workshops wie der heutige in Rio Vermelho sind Teil eines Projekts, um das Selbstbewusstsein und die Eigenwahrnehmung der Jugendlichen zu stärken. Allein zu erkennen, dass die traumatisierende Gewalt um sie herum nicht normal ist, sondern eine grobe Verletzung ihres Rechts auf Schutz und Unversehrtheit, ist ein erster großer Lernschritt.
Ein Viertel ohne Angst
„Wir wollen in einem Viertel leben, in dem die Rechte von allen gewahrt sind, egal ob sie alt oder jung sind“, fasst Paulo die Diskussion in seiner Workshop-Kleingruppe zusammen. „Wo wir uns frei bewegen können, egal welche Hautfarbe wir haben. Wo alle sicher sind.“ Reihum ergänzen sie das Zukunftsbild vom Zusammenleben in ihrem Viertel. In jedem Wunsch, den die Jugendlichen nennen, steckt die Information über eine jetzige Rechtsverletzung. Rebecca ist als letzte an der Reihe: „Ich wünsche mir ein Viertel, in dem Frauen keine Angst vor Männern haben müssen, wo keine Drogenbanden herrschen. Ein Viertel ohne Angst.“
Gewalterfahrungen teilen, Rechte einfordern – gemeinsam!
Die nächsten Monate werden Paulo, Rebecca und die anderen gemeinsam mit unserer Partnerorganisation daran arbeiten, was sie dafür tun können. Sie werden die möglichen Anlauf- und Beschwerdestellen kennenlernen, und erfahren, welche Mechanismen dort jeweils greifen. Sie werden Strategien entwickeln, wie sie im Dialog mit politisch Verantwortlichen ihre Rechte einfordern und ausüben können. Und bei all dem wächst ihre psychische Widerstandsfähigkeit, mit den massiven Gewalterfahrungen umzugehen, werden sie persönlich ermutigt und in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt.
Im Workshop jetzt ist es höchste Zeit für die Videoclips: Mit den für sie betriebsbereit aufgeladenen Handys in der Hand sausen die Jugendlichen aus dem Klassenzimmer. Verteilt auf verschiedene Ecken und Winkel im Außengelände der Schule wird jetzt gedreht.
Denn heute geht es erstmal um Selfies. Selfies fürs Selbstbewusstsein.