„Schule? Probiert es im nächsten Jahr wieder!“ Das bekommen in Chile besonders Kinder von Migranten zu hören. Sie haben es doppelt schwer, Fuß zu fassen und ihre Rechte einzufordern. Einer, der das gut kennt, ist der, den alle nur el Señor de la torta nennen. Der Tortenbäcker ist selbst aus Peru eingewandert und hat es geschafft, seine beiden Kinder in einer Schule unterzubringen. Aber er tut noch viel mehr für die Migranten-Community…
Der Hof liegt am Ende eines langen Hausdurchgangs und ist winzig. An dicht gespannten Wäscheleinen baumeln verblichene T-Shirts, kurze Hosen und Röcke, darunter drängen sich ein Dutzend Kinder. Zwischen ihnen und mir steht – der Tortenbäcker. Anfangs kenne ich seinen Broterwerb noch gar nicht, ich besuche ihn hier als Vater, dessen Kinder in einem Projekt der Kindernothilfe für Migrationsfamilien gefördert werden. Doch dann erzählt er mir seine Geschichte.
Als Peruaner in Santiago
Vor 15 Jahren sei er mit seiner Frau aus Peru hierher gezogen, an die Peripherie von Santiago, beginnt er. Seitdem sind dieser Hof und zwei davon abgehende Zimmer sein Zuhause. Anfangs teilte er sich die Räume, von denen keiner mehr als 10 Quadratmeter misst, nur mit seiner Frau. Dann kamen zwei Kinder dazu, sie wurden hier geboren.
Eigentlich, erklärt er mir, wohnen sie alle ja nur in dem einen Zimmer. Er zeigt es mir. Eine schmale Leiter führt von dem winzigen Wohnraum hinauf zu einer Galerie: dort oben wird geschlafen. Der zweite Raum, vom Hofdurchgang über einen extra Eingang zugänglich, sichert das Familieneinkommen. Hier wird gerührt, gebacken und verziert. Denn das hat el Señor de la torta, wie ihn die Nachbarn nennen, gelernt: er ist Tortenbäcker.
Tag und Nacht Tortenbäcker – denn das Leben ist teuer
Tagsüber arbeitet er in einer Bäckerei in der Innenstadt. Doch das Leben in Santiago ist teuer, da reicht ein Gehalt bei weitem nicht aus, um vier Personen zu ernähren. Offen nennt er mir seinen Verdienst. Er entspricht dem staatlichen Mindestlohn und ist genauso hoch wie die Miete: 350.000 Pesos, knapp 500 Euro.
Um nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch Wasser und Essen, Kleidung und Strom zahlen zu können, zieht der Tortenbäcker jede Nacht und am Wochenende mit einem Handkarren durch die Straßen und verkauft seine eigenen süßen Kreationen. Im Lauf der Jahre habe er eine ganze Reihe von Stammkunden gewonnen, die er regelmäßig beliefert, erklärt er nicht ohne Stolz. Auch auf Märkten, in kleinen Läden, an Straßenecken bietet er seine Backwaren an.
Ein Hof als Klassenzimmer
Jetzt steht er mitten im Hof und gießt sonnengelbe Inka-Cola in Plastikbecher. Die Kinder lachen und trinken begeistert mit. Sie freuen sich über die Abwechslung, die mein Besuch beim Tortenbäcker bringt. Normalerweise ist der Hof jeden Nachmittag ihr zweites Klassenzimmer. Zu zwölft sitzen sie dann an drei Klapptischen unter den baumelnden Wäschestücken und machen Hausaufgaben.
Begleitet und gefördert werden sie dabei von Mitarbeitenden des Colectivo Sin Fronteras. Die setzten sich dafür ein, dass die Kinder überhaupt eine Schule besuchen können. Zwar gibt es in Chile die allgemeine Schulpflicht. Aber keine staatliche Instanz überprüft, ob ein Kind tatsächlich zur Schule geht. Im Gegenteil: das Recht auf Beschulung wird für Migrantenkinder weitgehend ignoriert. So macht der Tortenbäcker eben seinen Hof zum Klassenzimmer.
Schule? Probiert es im nächsten Jahr wieder!
„In eine Klasse passen 45 Kinder. Wenn alle Klassen in einer Schule voll sind, heißt es für neu dazukommende Kinder: Probiert es im nächsten Jahr wieder“, erzählt Patricia, eine Colectivo-Mitarbeiterin. An der Schule, an der die ausgebildete Pädagogin regelmäßig Stunden gibt, stünden so bereits 600 Kinder auf der Warteliste. Es sei ein harter, zäher Kampf, um Migrantenkindern einen Schulplatz zu sichern. Erst recht, wenn die Schule nicht zwei Stunden entfernt am anderen Ende der Stadt liegen soll.
Der Tortenbäcker hat es geschafft: Seine beiden Kinder besuchen eine nahegelegene staatliche Schule. Im Colectivo-Projekt nehmen sie an verschiedenen Gruppen teil, an der Hausaufgabenbetreuung und dem „Karneval ohne Grenzen“ genauso wie an Workshops zu Kinder- und Jugendrechten. In der Ludothek, einem Ort zum Spielen, finden sie eine Rückzugmöglichkeit.
Kinder von Migranten haben es doppelt schwer
200 Kinder werden in dem Projekt gefördert. Viele befinden sich in besonders schwierigen Lebenslagen. „Manche brauchen dringend Zugang zu einem Facharzt, andere sind Opfer von Misshandlung, von Ausbeutung oder sie sind Zeugen häuslicher Gewalt,“ berichtet mir die Colectivo-Leiterin im Hof des Tortenbäckers. Wenn Kinder ihr von Streit und Schlägen zu Hause erzählen, von langen lauten Nächten mit viel Alkohol, dann besucht sie die Familien auch daheim, schaltet sich ein, vermittelt Rechtsbeistand und soziale Unterstützung.
Wie hoch der Bedarf ist, zeigen aktuelle Zahlen: 40 Prozent aller Kinder mit Migrationshintergrund leben in Chile in extremer Armut oder multidimensionaler Armut, d.h. ohne Gesundheitsbetreuung, mit geringen Bildungschancen und niedrigstem Lebensstandard. Damit haben sie ein doppelt so hohes Armutsrisiko wie in Chile geborene Kinder.
Auch die Eltern brauchen Hilfe
Am Samstag öffnet der Tortenbäcker seinen Hof für die Eltern der betreuten Kinder, dann finden hier regelmäßig Informationsveranstaltungen und Workshops für sie statt. Die Colectivo-Mitarbeitenden wissen, unter welchem Druck die Eltern leben. Wie Arbeitslosigkeit, die prekären Wohnverhältnisse, Diskriminierung und Perspektivlosigkeit das Leben der Familien belasten. Hier erhalten sie Hilfestellung und Beratung, beispielsweise welche Zugangsmöglichkeiten zu staatlichen Fördermitteln und Sozialleistungen es gibt.
Die Wohnungsfrage ist bei den meisten akut. Eine Alternative zu den beschränkten Wohnmöglichkeiten in den maroden Altbauten zu finden ist schwierig. Zwar wachsen ringsum immer mehr schmucklose Hochhäuser aus dem Boden. Aber auch dort sind die Mieten so hoch, dass sich mindestens zwei Familien eine 50-Quadratmeter-Wohnung teilen, um die Kosten gemeinsam zu stemmen.
Noch kann der Tortenbäcker das Familienzimmer und seinen Bäckereiraum halten. „Aber im nächsten Jahr soll die Miete erhöht werden“, befürchtet er.
„Wir wollen diese Kinder sichtbar werden lassen“
Es sind Familien wie seine, die Colectivo Sin Fronteras als Beispiel anführen, wenn sie auf politischer Ebene verbesserten Schutz und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund fordern. Vor 15 Jahren, als der Tortenbäcker nach Chile kam, war Colectivo die erste Organisation im Land, die sich um die Situation und die Probleme von Kindern aus anderen Ländern gekümmert hat.
„Migranten sind unsichtbar, für den chilenischen Staat und für die Gesellschaft,“ konstatiert Patricia. „Uns ging es von Anfang an darum, diese Kinder sichtbar werden zu lassen“. Gezielt nutzen sie Fernseh- und Radiosendungen für die Lobby- und Advocacyarbeit, sind als Kindesschutz-Experten gefragte Teilnehmende bei Podiumsdiskussionen. Und setzen sich in Netzwerken mit Behörden und großen Menschenrechtsorganisationen für die Kinder ein. Auch für die des Señor de la Torta.