Frieden: die Sehnsucht danach zieht sich durch die gesamte Jubiläumsfeier. Seit 50 Jahren kooperieren wir als Kindernothilfe mit Partnerorganisationen in Äthiopien. Um die bisherige Arbeit unserer Partner zu würdigen und aktuelle Herausforderungen zu besprechen, bin ich hierher ans Horn von Afrika gereist. Eigentlich nur nach Addis Abeba. Die Hauptstadt darf ich aus Sicherheitsgründen nicht verlassen. Denn im Land herrscht Krieg.
„Come let us raise peace“ steht auf ihren T-Shirts, und darum geht es auch in dem Lied, das sie singen. Ich muss mir den Text übersetzen lassen, denn Amharisch kann ich weder lesen noch verstehen. Es sind Jugendliche unseres Partners „Mission for Community Development Program“ (MCDP) in Äthiopien, die vor der großen Jubiläumsversammlung singen und tanzen. Und sie setzen mit ihrem Gesang den Ton für den Tag: Es muss um Frieden gehen – gerade in Zeiten wie diesen!
Der Bürgerkrieg in Tigray
Im November 2020 begannen im Norden Äthiopiens die brutalen militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Tigray People’s Liberation Front (TPLF) und der äthiopischen Zentralregierung. Grund dafür war ein Machtkampf um die Kontrolle über die Region. Hunderttausende Menschen verloren seitdem in dem Bürgerkrieg ihr Leben oder wurden vertrieben.
Als im November 2022 ein Waffenstillstand vereinbart wurde, keimte bei vielen die Hoffnung auf Frieden auf. Doch die Waffenruhe war fragil. Jetzt wiederholt sich, in leicht abgewandelter Form, der Konflikt in den Provinzen Amhara und Oromia. Nur vereinzelt dringen genauere Informationen nach außen, die Regionen sind von Kommunikation und Medienzugang abgeschnitten. Fest steht nur: Menschen sterben, durch Gewalt, an Hunger. Die Lebensmittelpreise sind landesweit massiv gestiegen. Selbst in Addis sind Grundlebensmittel für viele kaum mehr erschwinglich.
Die Hungerkrise 1973
Die Situation erinnert an die Zeit vor 50 Jahren. Damals, 1973, starben nach einer großen Dürrekatastrophe am Horn von Afrika 200 000 Menschen an Hunger. Der damalige Kaiser Haile Selassie verbot den Medien die Veröffentlichung der dramatischen Lage. Aber die Kirchen konnten sich äußern und riefen um Hilfe, und die Kindernothilfe folgte diesem Ruf. So begann unser Engagement in Äthiopien.
Friedensbotschafterin Mulu Haile
In Addis treffe ich Mulu Haile. Sie ist Gründerin und Direktorin von MCDP. Seit 20 Jahren arbeitet die Kindernothilfe mit MCDP zusammen, vor allem im Bereich der Frauen-Selbsthilfegruppen, aber auch mit humanitärer Nothilfe. Für ihr vielfältiges Engagement wurde Mulu bereits mehrfach ausgezeichnet, sie gehört zu den „Ethiopian Women of Excellence“ und den „African Most Influential Women“. Zuletzt erhielt Mulu Haile die föderale Auszeichnung als Botschafterin für den Frieden.
Der Traum vom Frieden
Am Rande der Jubiläumsfeier erzählt sie mir, wie es dazu kam: „Überall in Äthiopien haben wir Auseinandersetzungen. Und ich habe mich jeden Tag gefragt, wie wir aus diesen Konflikten herauskommen können.“ Eines Nachts, quasi im Schlaf, hatte sie diese Idee: Die Jugend, die nächste Generation, aus ihr rekrutieren sich diejenigen, die Frieden säen können. Beim Aufwachen stand damit auch schon der Name fest: „Planting seeds of Peace“ – Samen des Friedens pflanzen.
Keine Entwicklung ohne Frieden
Eine Person und eine Organisation alleine können keinen Friedensprozess starten, das war Mulu klar. Sie warb breit um Unterstützung, in ihrem Freundeskreis, bei Organisationen, die mit Kindern arbeiten, auch bei der Regierung. Frieden sollte zum Thema des ganzen Landes werden.
Menschen zu bewegen und zu motivieren, „das steckt in meiner DNA“, lacht die gelernte Sozialarbeiterin. Schon ihr Vater war als Entwicklungshelfer tätig, als Arzt, als Fundraiser für den Bau von Schulen und Kirchen. „Ich weiß, dass Entwicklung ohne Frieden keinen Erfolg hat“, erklärt Mulu. „Deshalb müssen wir die Verbindung schaffen zwischen Entwicklung und Frieden.“
Planting Seeds of Peace
Zusammen mit Kindern nachhaltigen Frieden für ihr Land bringen – die Idee begann sich zu verbreiten. Mit zehn Grundschulen fing sie an, baute ein Netzwerk von Frauengruppen auf, arbeitete mit bundesweiten Medien zusammen. Mit Erfolg.
In den Schulen sind die Veränderungen bereits spürbar. Dort gibt es jetzt Friedensbotschafter und -botschafterinnen in den Klassen. Sie vermitteln bei Problemen untereinander oder bei Problemen zwischen Lehrkräften und Kindern. Die Mitglieder der Frauenkomitees sind als Konfliktlöserinnen tätig, ob bei Nachbarschaftsstreitigkeiten, bei Erbschaftsauseinandersetzungen zwischen Geschwistern um Landbesitz oder bei Konflikten zwischen Ehefrau und Ehemann.
Ein Friedens-Manual für Kinder wurde entwickelt, das auch über Regierungsmedien landesweit verbreitet wird. „Wir hoffen, dass wir auch in den Konfliktzonen unterrichten können.“ Mulu betont unermüdlich die Wichtigkeit, das Bewusstsein für Frieden zu wecken. Damit Kinder gut in ihrer Community aufwachsen können.
Frieden für den Kontinent
Ihr Engagement als Friedensbotschafterin sieht sie nicht auf Äthiopien allein beschränkt. „Konflikte gibt es überall, das ist ein globales Problem.“ Sie weiß auch: Als Sitz der Afrikanischen Union hat Äthiopien nicht nur symbolisch große Bedeutung für die Zukunft des Kontinents. Darum engagiert sie sich weit über ihr Land hinaus dafür, die Bedeutung von Frieden gerade mit Blick auf das Aufwachsen von Kindern zu betonen.
Als Vorsitzende des IGAD-Forums (Intergovernmental Authority on Development) in Ostafrika haben ihre Worte große Reichweite. „Nächste Woche bin ich in Uganda. Dort repräsentiere ich 30 000 NGOs. Ich bin auf verschiedenen Plattformen dabei, bin Mitglied in Lenkungsausschüssen, ob es nun um das Recht von Frauen auf Landbesitz geht – in Ostafrika ist Land nur für Männer gedacht – oder um das Thema Frieden und Sicherheit.“ Auch die schlechte Ernährungssituation von Kindern und Frauen als Folge von Konflikten hat sie als alarmierendes Thema im Blick. „Auch dieses Problem müssen wir angehen. Ernährung, Frieden, die Entwicklung der Frauen sind meine momentane Arbeit.“ All ihre Ämter, Beauftragungen und Auszeichnungen will sie dafür in die Waagschale werfen. Und weiß zugleich, dass es nicht allein in ihrer Hand liegt, sondern nur gelingen kann, wenn „Gott mir die Chance gibt, das zu tun.“