Äthiopien: Mit Schafen aus der Armut

In diesem Jahr werden wir bei der Kindernothilfe voraussichtlich noch eine ganze Weile keine größeren Dienstreisen unternehmen können. Umso wertvoller sind mir die Erlebnisse aus früheren Projektbesuchen. Zum Beispiel aus meiner allerersten Reise als Vorstandsvorsitzende, die mich im Dezember 2014 nach Äthiopien führte und auf der ich lernte, was Schafe gegen Armut bewirken können…

„Das ist die Schafskälte“, meinte meine Mutter früher, wenn Mitte Juni ein plötzlicher Kälterückfall uns zwang die Sommerkleider noch einmal durch lange Hosen und dicke Strickjacken zu ersetzen.  Daran muss ich denken, als wir uns morgens um sechs aus dem noch nächtlich ruhigen Addis Adeba in das nördliche Hochland Äthiopiens aufmachen. „Da wird es sehr kalt“, hatte uns Teshalech vorgewarnt, unsere Kindernothilfe-Länderkoordinatorin und Begleiterin für diesen Tag.

Auf über 3.000 Höhenmeter kämpft sich das Geländefahrzeug vorwärts, taucht immer wieder ein in tief hängende, regenschwere Wolken. Immer seltener werden die Dörfer, dafür fällt unser Blick nach jeder Kurve auf schmale, sorgsam in steilen Terrassen bebaute Felder. Unsere Partner der Orthodoxen Kirche Äthiopiens wollen uns hier in der abgelegenen Mojjana-Region,  in der Armut und Bedürftigkeit extrem hoch sind, einige gemeinsame Projekte vorstellen.

Den Kreislauf aus Armut, Hunger und Kinderarbeit durchbrechen

Wir erreichen das Dorf Tarma Ber, eine unscheinbare Ansammlung von Häusern und Hütten, nach vier Stunden Fahrt, inklusive Reifenpanne und kurzem Frühstücksstopp. Der Projektleiter bittet uns zuerst in sein  Büro. Es liegt in einem Innenhof hinter hohen Stapeln Brennholz, als Schutz vor Kühen eingezäunten Baumsetzlingen und Körben mit Baumaterial.

Während der Regen auf das Wellblechdach trommelt und die windschiefe Tür in den Angeln quietscht, präsentiert er uns tatsächlich mit Notebook und Beamer die Ziele und Zielgruppen des Projekts. So irreal mir die Situation vorkommt, so überzeugend finde ich die Inhalte. Es geht hier um die Ärmsten der Armen. Die meisten Familien im Dorf verdienen nicht genug, um ihr Überleben zu sichern. Sie besitzen kein oder zu wenig Land, das sie ernähren könnte, als Taglöhner oder als Holzsammler werden sie so schlecht bezahlt, dass Unter- und Fehlernährung weit verbreitet sind. „Ernährungssicherheit“ lese ich als Hauptziel auf der Wand.

Und schon gehts weiter. Aufgrund der großen Armut der Familien sind auch ihre Kinder gezwungen, zum Einkommen der Familie beizutragen. Für Schule bleibt da keine Zeit.  Mehr als 42 Prozent der Bevölkerung sind Analphabeten. „Zugang zu Schulbildung“, lese ich als zweiten Schwerpunkt. Zehn Folien und einige Nachfragen weiter machen wir uns auf den Weg. Gerne will ich mit einigen Betroffenen sprechen, wie sich ihre Situation durch unser Projekt tatsächlich geändert hat.

Eine Schafherde in Äthiopien als Weg aus der Armut
Starker Rückhalt: Schafzucht und der Rückhalt durch die Selbsthilfegruppe
Startkapital: zwei Schafe

Jetzt stehen wir vor der Hütte von Girmachew und seiner Mutter. Girmachew ist neun Jahre alt, wegen ihm sind wir hier. Als achtes Kind einer alleinerziehenden Mutter gehört er zu den sogenannten „verletzlichen Kindern“, die unsere Partner in Tarma Ber identifiziert haben. Ein beißender Wind pfeift uns um die Ohren. Während ich gegen die Kälte den halben Inhalt meines Reisekoffers in mehreren Lagen gleichzeitig übereinander trage, steht Girmachew kurzärmlig vor uns und beäugt uns neugierig.

Seine Mutter erzählt uns, wie sie vor zwei Jahren in eine der „Funktionsgruppen“ des Projekts eingeladen wurde. Zu siebt haben sie sich dort getroffen, um mit dem Projektbegleiter zu beraten, wie sie trotz Armut und fehlender Mittel ihre Situation verbessern könnten. Dann erhielt sie als Startkapital zwei Schafe. So begann ihre kleine Zucht. Sie deutet über den Hof vor ihrer Hütte. Dort tummeln sich mittlerweile fünf Schafe.

Girmachew geht jetzt zur Schule

Ja, erklärt sie, die Schafe brachten die Wende. Das erstgeborene Lamm habe sie gemästet und dann verkauft. Die nächsten Lämmer habe sie behalten. Außer einem Lamm. Das habe sie  –  als Teil der Projektidee – an eine andere Familie weiterverschenkt, die in noch größerer Armut lebte. In der Gruppe hat sie währenddessen auch eingeübt, jede Woche selbst kleinste Beträge anzusparen. Vieles hat sie dort in der Gruppe gelernt, über richtige Ernährung, über sauberes Trinkwasser und Gesundheitsvorsorge. Und darüber, wie wichtig der Schulbesuch für ihre Kinder ist.

Das ist Girmachews Stichwort. Ja, sagt er und tritt ein paar Schritte vor, er gehe jetzt in die Schule, jeden Tag. Nur heute sei er daheim geblieben, weil er doch die Gäste begrüßen wollte. Und ihnen danken wollte für das, was das Leben seiner Mutter, seiner Geschwister und auch sein eigenes verändert hat. Er läuft zu den Schafen und nimmt das kleinste auf den Arm. „Danke“, sagt Girmachew ernst und sieht uns an. Ganz fest drückt er dabei das Lämmchen an sich. Vielleicht vor Dankbarkeit, vielleicht aber auch einfach wegen der Schafskälte.

Äthiopien: zwei Hammel, umringt von Kindern und Männern
Die Schafe brachten die Wende!

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Autor: Katrin Weidemann

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