Heute endet die Deadline. Für die letzten US-Soldaten in Afghanistan bedeutet der 31. August 2021 das Ende des Truppenabzugs, die Rückkehr in ihre Heimat. Für zehntausende Menschen in Afghanistan dagegen markiert die Deadline eine tödliche Grenze. Ganz wörtlich genommen. Männer, die sich politisch engagierten, Frauen, die sich aktiv in den gesellschaftlichen Diskurs einbrachten, als Aktivistinnen, Journalistinnen, Bloggerinnen, sie alle wissen: Wer es bis heute nicht geschafft hat, sich außer Landes in Sicherheit zu bringen, muss mit dem Tod rechnen.
Zarifa Ghafari: Eure Deadline, unsere Zukunft
Zarifa Ghafari gehört zu denen, die es geschafft haben. Nicht zum ersten Mal ist die 29-jährige dem Tod knapp entkommen. Als eine der bekanntesten und engagiertesten Politikerinnen in Afghanistan ist sie Hoffnungsträgerin für Generationen von Frauen. Für die Taliban wurde sie deshalb zur Zielscheibe. Sie selbst hat mehrere Mordanschläge überlebt. Dass statt ihr vor neun Monaten ihr Vater getötet wurde, konnte sie nicht verhindern.
Nach einer dramatischen Flucht und vermutlich in allerletzter Minute erreichte Zarifa Ghafari in der vergangenen Woche den Flughafen Kabul. Von dort wurde sie zusammen mit Familienangehörigen nach Deutschland ausgeflogen, via Islamabad und Istanbul landete sie am Montagabend in Köln-Bonn.
Ich treffe Zarifa Ghafari in Düsseldorf. Die nordrhein-westfälische Staatskanzlei hat zu einem Runden Tisch eingeladen, ein halbes Dutzend Vertreter:innen von Menschenrechts- und Hilfsorganisationen und Zarifa Ghafari. Offiziell geht es um die Situation der Frauen in Afghanistan. Zarifa geht es um viel mehr. Es geht ihr um die Zukunft der Menschen in ihrer Heimat – jenseits der Deadline.
Let’s talk
Darüber will sie sprechen, unbedingt. Als eine, die jetzt in Sicherheit ist, will sie sprechen für ihre vielen Landsleute, die in den vergangenen Jahren mutig ihre Stimme gegen die Taliban erhoben haben und jetzt dafür von ihnen gejagt werden.
„Ich bin bereit“, sagt sie entschlossen mit einem Blick in die Runde in Düsseldorf, „let’s talk“. Sie sagt es, auch wenn ihre wichtigsten Gesprächspartner nicht mit am Tisch sitzen. Eben diese Taliban, die Afghanistan jetzt für sich beanspruchen. Gleich zu Beginn unseres Gesprächs macht sie das deutlich: Zarifas Ziel ist es, mit den Taliban zu reden. Um sie zu erreichen, nutzt sie in Deutschland jedes Interview-Mikrofon. „Ich bin bereit, mit den Taliban zu reden. Wo immer sie auch sind, was immer sie auch machen.“ Zarifa sucht das Gespräch mit ihnen. Denn, davon ist sie überzeugt: „Sie können nicht ohne uns regieren.“
We can’t ignore Taliban now – so let’s work with them
Wer Afghanistan regieren will, brauche die afghanischen Frauen, brauche die Generation starker Afghan:innen, die wie sie selbst in den vergangenen 20 Jahren heranwuchs.
Um ihr Land zu retten, will Zarifa verhandeln. Natürlich müsse dann um viele Fragen gerungen werden, erklärt sie. Und nein, es gehe nicht um die Frage „Burka tragen“ oder „keine Burka tragen“, das wäre ja nun viel zu verkürzt. Es gehe um viel Grundsätzlicheres: Von „Wie ist denn euer Verständnis von Islam und der Sharia“ („Ich bin auch eine Muslima!“) bis hin zum Recht für Frauen, zu wählen und selbstverständlicher Teil der Gesellschaft zu sein.
„We can’t ignore Taliban now. So let’s work with them.“ In diesem Punkt sei sie eine typische Vertreterin ihrer Generation. Die denke in dieser Frage wie sie: „clear to the point“.
Clear to the point
Mutig und beherzt, so erlebe ich Zarifa Ghafari an diesem Nachmittag in Düsseldorf. Wie entschlossen sie sein kann und wie furchtlos, hat sie schon mehrfach in ihrem Leben bewiesen. Sie war vier Jahre alt, als die Taliban in Afghanistan die Macht übernahmen. Mit zwölf durfte sie erstmals eine Schule besuchen, als einziges Mädchen. Sie studierte, machte ihren Master in Wirtschaftswissenschaften und bewarb sich 2018 erfolgreich auf den Bürgermeister-Posten von Maidan Shahr – die einzige Frau unter 138 Anwärtern. Antreten konnte sie ihre Stelle erst nach neun Monaten. „Islamic leaders“, blickt sie zurück, Männer mit Stöcken und Gewehren verwehrten ihr den Zugang in ihr Büro. Es folgten harte Monate, in denen sie gedrängt wurde, ihr Amt abzugeben. Sie ließ nicht nach, führte unzählige Gespräche, machte viele kleine Schritte, bis sie akzeptiert wurde und ihr Amt tatsächlich antreten konnte.
I’m done with this
Damals hat sie es geschafft, ihre Stimme wurde gehört. Und heute? Wir kommen ins Gespräch. Wie schätzt sie die politischen Möglichkeiten von westlichen Staaten für eine Verständigung mit dem Taliban-Regime ein? Ihre Antwort kommt schnell, fast stakkatoartig: „I’m done with this“.
Sie sei fertig damit, von Verhandlungen des Westens mit den Taliban irgendwelche Erfolge zu erwarten. So lange hätten sie in der Vergangenheit gerufen, so laut hätten sie gewarnt. Nichts sei geschehen. „Deshalb sitze ich ja hier“, bricht es aus ihr heraus. „No one heard it!“ Zwanzig Jahre Kampf für Rechte und Freiheiten – von einem Tag auf den anderen verloren.
Frauen sind das Fundament der Freiheit in Afghanistan
Was in den letzten 20 Jahren in Afghanistan an Freiheiten gewachsen ist, es sei vor allem den Frauen Afghanistans zu verdanken. Und denen, die sie dabei unterstützt haben, ergänzt sie mit Blick auf die Entwicklungsorganisationen im Raum. Auch als Kindernothilfe sind wir seit fast 20 Jahren in Afghanistan aktiv. Begleiten Frauen im ländlichen Raum langfristig mit dem Angebot von Selbsthilfegruppen, wo sie miteinander lernen und sich gegenseitig stärken, um ihre Lebenssituation und die ihrer Kinder zu verbessern. „Alle Probleme in Afghanistan haben ihren Ursprung auf dem Land“, weiß Zarifa. Darum müssen Projekte auch dort ansetzen, in den Dörfern, und nicht bei den studierten Frauen in den Städten. Aber hier wie dort, fasst Zarifa Ghafari zusammen, sind Frauen ein Fundament von Afghanistan. Sie sind für die Freiheit notwendig.
Das Recht auf (Über-)Leben
Elf afghanische Koordinatorinnen unserer Kindernothilfe Selbsthilfegruppen haben sich jahrelang dafür eingesetzt, dieses Fundament stark zu machen. In Hunderten von Gruppen haben sie Frauen und ihren Kindern dabei geholfen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen: mit eigener Stimme, wirtschaftlicher Stabilität, als politisch engagierte, sichtbare Mitglieder der afghanischen Gesellschaft.
Seit zwei Wochen leben die elf Kolleginnen in Verstecken. Von Duisburg aus kämpfen wir verzweifelt um ihre Ausreise: dass sie Visa erhalten, ihre Namen auf Fluglisten kommen, sie Transportmöglichkeiten zum Flughafen erhalten. Städte in Deutschland wie Duisburg und Köln stehen als „sichere Häfen“ bereit, um Gerettete aufzunehmen – auch über jedes Kontingent hinaus.
Heute ist der Tag der Deadline. Wir wissen nicht, ob wir unsere Kolleginnen je wiedersehen.
Unterstützt diese Frau wo immer Ihr könnt!
Danke!
Danke, dass Euch die Afghanen nicht egal sind!