Seit sechs Jahren herrscht Krieg in Syrien. Für Millionen Frauen, Männer und Kinder bedeutet das Tod und Verzweiflung. Verschlimmert wird die humanitäre Krise noch dadurch, dass Hilfslieferungen von den Kriegsparteien nicht durchgelassen werden. Wir wollen helfen, doch uns sind die Hände gebunden.
Die rote Kordel scheuert ums Handgelenk. Eine halbe Stunde lang stehe ich mit gebundenen Händen vor dem Reichstag in Berlin. Für mich ist es nur ein kleiner Schmerz. Nichts im Vergleich zu dem katastrophalen Elend der Frauen, Männer und Kinder in Syrien, auf das die Aktion hinweisen soll.
„Uns sind die Hände gebunden“ steht auf dem Transparent, das zwei Helfer hochhalten. Mit gut 100 Vertreterinnen und Vertretern von mehr als 20 Organisationen mache ich darauf aufmerksam, dass sich sechs Jahre nach Ausbruch des Bürgerkriegs die Situation in Syrien zu einer der größten humanitären Krisen unserer Zeit entwickelt hat. Mehr als 13 Millionen Menschen sind mittlerweile auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Hälfte von ihnen Kinder!
Hilfskonvois kommen nicht durch
Trotz der dramatischen Lage können wir mit unseren Versorgungslieferungen viele Hilfsbedürftige in Syrien nicht erreichen. Uns sind tatsächlich „die Hände gebunden“. Fast fünf Millionen Menschen leben nämlich in Gebieten, die seit Monaten belagert und wegen Kampfhandlungen und Blockaden kaum zugänglich sind. Verweigerte Genehmigungen für Hilfstransporte, nicht eingehaltene Feuerpausen, Uneinigkeit über Zugangsrouten und die Nicht-Einhaltung von abgestimmten Verfahren an Checkpoints durch die beteiligten Konfliktparteien machen eine ausreichende und effiziente Hilfe unmöglich.
Nur 10 Prozent der Hilfskonvois erhalten Zugang zu den belagerten und schwer zugänglichen Gebieten. So bleiben Millionen von Syrern von Hilfslieferungen weitestgehend abgeschnitten. Ihr Leid ist unvorstellbar. Wenn sie nicht schnellstens mit Lebensmitteln, Wasser und medizinischer Versorgung erreicht werden, droht Tausenden der Tod.
Uns sind die Hände gebunden – Aleppo x 13
Die Stadt Aleppo, die zum Synonym für das Leid der Zivilbevölkerung in belagerten Gebieten wurde, ist bis heute Inbegriff des Grauens, das Menschen erleben, die ständig beschossen werden und komplett eingeschlossen sind. In Syrien gibt es jedoch insgesamt 13 Orte wie Aleppo. Die Namen dieser schwer zugänglichen und belagerten Gebiete kennt bei uns kaum jemand. Madaja, Zabadania, Fua, Kfarja oder Deir ez-Zor.
Ich bin erschüttert über die Berichte, die uns aus den belagerten Gebieten in Syrien erreichen. Es fehlen die grundlegendsten Dinge des täglichen Lebens. Die Bewohner sind seit Monaten von Hilfslieferungen abgeschnitten. Der Hunger, die andauernden Angriffe und der Verlust von nahen Familienangehörigen haben grausame Folgen für die physische und psychische Gesundheit der Kinder. Manche der Kinder in den belagerten Gebieten, erfahre ich, wünschen sich sogar, dass sie von Scharfschützen getroffen werden. Wenn sie verletzt seien, so ihre Hoffnung, kämen sie in ein Hospital außerhalb der Belagerung und könnten dann „essen, was sie wollten“.
Nein, den Mund halten wir nicht!
Deswegen stehen wir hier, im kühlen Wind vor dem Reichstagsgebäude in Berlin. Die Stimmung unter uns ist verhalten. Seit Kriegsbeginn haben wir unzählige Berichte, Warnungen und Mahnungen zur Situation in Syrien auf deutscher, europäischer und internationaler Ebene veröffentlicht. Wenn es jetzt um den Zugang zu schwer erreichbaren Gebieten geht, sind uns die Hände gebunden. Den Mund halten wir jedoch nicht.
Gemeinsam appellieren wir an die Bundesregierung und die internationale Gemeinschaft, alles dafür zu tun, den humanitären Zugang sicherzustellen und das Völkerrecht zu wahren. Es ist ein erneuter dringender Appell, die diplomatischen Anstrengungen zu verstärken und eine politische Lösung für den Konflikt herbeizuführen.