Es ist eine Zeitreise in die Anfänge der Kindernothilfe, die ich heute erlebe. Nur drei Autostunden von Kalkutta (offiziell Kolkata) entfernt, fühle ich mich in einem Mädchenwohnheim zurückgebeamt in die sechziger Jahre, „als alles begann“. Es wird eine Begegnung mit Personen und Geschichten, die die Anfänge unseres Kinderhilfswerks prägten.
Doch unsere Fahrt zum Mädchenwohnheim führt uns erst einmal quer durch die Stadt. „Woran erkennt man, dass das hier Kalkutta ist?“ fragt mich Kamalika, die Kollegin aus unserem indischen Büro. Ich schaue durch das Autofenster auf die dreirädrigen Tuk Tuks neben uns auf der Straße, sehe morbide Reste alter Kolonialbauten und nüchtern-neue Hotelkomplexe, winzige Straßenläden, verwitterte Fassaden und riesige Werbetafeln. Was davon typisch für ausgerechnet diese Stadt ist?
Weiß-blau: Seit 2011 die Farben von Kalkutta
„Da!“ Kamalika zeigt auf die Bordsteine. „Das sind die Farben Kalkuttas, die Erkennungszeichen der Stadt.“ Ich schaue und staune. Tatsächlich – alle Bordsteinkanten, Leitplanken, Verkehrshütchen und Absperrgitter, an denen wir vorbeifahren, sind weiß-blau bemalt. Ich gestehe, dass mein bayrisches Herz angesichts der vertrauten Farben lacht.
„Das liegt an ihr“. Kamalika deutet auf ein Großflächenplakat am Straßenrand mit dem Portrait einer Frau. Mamata Banerjee ist Ministerpräsidentin des indischen Bundesstaats Westbengalen. Sie genießt – trotz mancher unpopulärer Entscheidungen – großen Respekt in der Bevölkerung. Aus einfachen Verhältnissen stammend wie die Schülerinnen des Mädchenwohnheims, das wir besuchen wollen, lebt sie auch als Regierungschefin noch immer in dem Slum in Kalkutta, in dem sie einst aufwuchs. Sie trägt weiterhin Flipflops, bevorzugt schlichte Baumwollsaris und verzichtet auf Komfort und Wohlstand.
Nach ihrer Wahl im Jahr 2011 ließ sie die vormals gelb, orange und rot gestrichenen staatlichen Gebäude umfärben, wollte nach 34 Jahren kommunistischer Ära in Rot ein sichtbares Zeichen für den Neubeginn setzen. Wie ernst es Mamata Banerjee mit der weiß-blauen Optik ist, zeigt sich auch daran, dass sie Steuervergünstigungen für all jene in Aussicht stellt, die bereit sind, ihre Häuser in diesen Farben zu tünchen. Ich male mir lebhaft aus, was bayrische Unternehmen aus solch einem Angebot machen würden.
Mädchenförderung seit 58 Jahren
Weiter geht es Richtung Canning. Diese Stadt, 3 Autostunden von Kalkutta entfernt, trägt den Namen des ersten Vizekönigs von Britisch-Indien, Lord Charles John Canning. Nicht ganz so alt (Canning starb 1862) ist das Mädchenwohnheim, das wir besuchen. Es wurde 1959 von der anglikanischen Kirche gegründet, tatsächlich auf den Tag genau heute vor 58 Jahren. Das Zusammentreffen unseres Besuchs mit dem Gründungstag ist allemal Anlass für ein Fest, das die 160 Schülerinnen, ihre Hausmütter und die Heimleitung mit uns feiern.
„Welcome, welcome“ singen sie, als wir das Gelände des Hostels betreten, und streuen goldgelbe Blüten auf unsere Schuhe. Es ist ein langes Spalier von weißgekleideten Mädchen, durch das wir laufen. Sie stammen aus ärmsten Verhältnissen, ihre Eltern sind Tagelöhner, Kleinbauern oder Fischer. Die wenigsten haben ein dauerhaftes Einkommen, viele sind Analphabeten, leben unterhalb der Armutsgrenze. Vor allem in den Dörfern halten es die Eltern nicht für nötig, eine Tochter zur Schule zu schicken. Dass ihre Kinder dennoch Zugang zu Bildung erhalten, verdanken sie der Unterstützung von Paten aus Deutschland. Seit 1975, mehr als 40 Jahre, fördert die Kindernothilfe dieses Mädchenwohnheim, in dem Schülerinnen während ihrer Ausbildung umfassend betreut und gefördert werden.
Ein zackiges „Praise the Lord!“
Ihr fröhlicher Begrüßungsgesang begleitet uns bis in den Innenhof der Anlage, um den sich Schlafhäuser und Aufenthaltsräume gruppieren. Doch plötzlich ändert sich der Ton. Statt hellem, melodischem Gesang schnarren jetzt lautstarke Apelle übers Gelände. Eine Gruppe von Mädchen präsentiert ein beinah militärisch anmutendes Exerzierprogramm, das klingt, als säße der alte Lord Canning selbst noch im Regiment. Ich habe in meinem Leben schon manche Schulparaden miterlebt. Noch nie aber folgte auf die gebrüllten Kommandos wie „Atten-tion!“, „Left Turn!“ oder „For-ward!“ ein genauso zackig gebrülltes „Praise the Lord!“
Im Office der Leiterin des Mädchenwohnheims ist Tee vorbereitet. Aus der Hitze des Hofes trete ich in den abgedunkelten Raum – und stehe Aug in Aug einem lebensgroßen Portrait von Karl Bornmann gegenüber. Er hatte 1959 die Kindernothilfe ins Leben gerufen, von seinem Küchentisch in Duisburg aus wurden die ersten Patenschaften nach Indien vermittelt. Hier im St.Peter´s Hostel in Canning lächelt er seit 1975 von der Wand – seit die Kindernothilfe die Einrichtung unterstützt. Bornmann ist dabei in bester Gesellschaft. Direkt neben ihm hängt ein Portrait von Mutter Teresa im weiß-blauen Sari, der Ordenstracht der Missionarinnen der Nächstenliebe (die es – in den Farben Kalkuttas – selbstverständlich schon lange vor Mamata Banerjee gab).
Erfolgsstory Mädchenwohnheim: Bildung ändert alles
Unter den Augen des illustren Paares treffen wir zwei Frauen, die sich für den Besuch heute extra freigenommen haben. Vor gut zwanzig Jahren sind sie selbst in diesem Mädchenwohnheim aufgewachsen. Anita arbeitet mittlerweile als Krankenschwester im Hospital von Canning. Sunita ist verheiratet und unterrichtet an einer der Schulen von Canning. Beim Tee erzählen sie, wie sie es geschafft haben, sich aus der Armut der Sundarbans-Mangrovenwälder zu befreien und ein selbstbestimmtes Leben aufzubauen. Die Leiterin des Wohnheims, Purnima Biswas, hört ihnen mit sichtlichem Stolz zu. Ja, erklärt sie, so wie „ihre“ Mädchen Berufsausbildung und Studium gemeistert haben und jetzt auf eigenen Füßen stehen, sind sie Vorbilder für all die Mädchen, die momentan ihre Schulzeit im Wohnheim verbringen.
Wir begegnen ihnen beim Rundgang durch die Anlage. Manche bereiten sich auf den schattigen Gängen im Schlaftrakt auf die bevorstehenden Aufführungen vor, probieren ihre Kostüme an und richten sich lachend gegenseitig die Haare. Einige der älteren Mädchen finden wir im Computerraum, wo sie Excel-Tabellen üben und Grafikprogramme ausprobieren. Vorbei an Küchenhaus, Garten und Fischteich werfen wir noch einen Blick auf die Solaranlage.
Ein Fest für einen Ort, der Zukunft schafft
Und dann geht´s auf die überdachte Terrasse im obersten Stockwerk, wo die Mädchen schon in langen Reihen auf dem Boden sitzen. Die Schülersprecherin eröffnet das Festprogramm, einen bunten Reigen von Liedern und Tänzen. Er reicht vom verspielten „Wer hat denn all die Tiere geschaffen?“ der Fünf- und Sechsjährigen, bei dem sie in jeder Strophe ein anderes Geschöpf darstellen: Schmetterlinge, Fische, Vögel und schließlich auch „mich und dich“ zeigen, die wir alle, klein wie groß, Gott unser Leben verdanken. Bis hin zu den Teenies, die zu poppigen Rhythmen einen „Wie wunderbar, es regnet“- Tanz aufführen. Andere springen graziös mit bunten Schals über die Schulbühne, zu einem Lied, das, so wird mir erklärt, auf die Wiederkunft Christi verweist. Auch ein guter Vorsatz, denke ich mir, Christus am Ende der Zeit mit fröhlichem Hüpfen zu begegnen!
Natürlich werden auch wir Gäste nach einem künstlerischen Beitrag gefragt. Nach meiner Ansprache an die Heimgemeinschaft singen also mein Vorstandskollege Jürgen Borchardt und ich – auf ausdrücklichen Wunsch der Mädchen! – einen deutschen Kanon. Der dann noch getoppt wird durch eine Tanzeinlage von Jörg Denker, dem Leiters unseres Asienreferats, der die 160 Mädchen zu lauten Begeisterungsstürmen hinreißt, bis Guna, unsere indische Landeskoordinatorin, ihn erlöst und den Tanz auf der Bühne zu einem graziösen Ende bringt.
Die Übergabe von Preisen an die Besten ihres Jahrgangs in verschiedenen Kategorien schließt das Festprogramm ab. Es ist später Nachmittag, als wir uns im Mädchenwohnheim verabschieden und Canning verlassen, diesen geschichtsträchtigen Ort mit historischem Namen, in dem seit Jahrzehnten Mädchen ihre Zukunft gestalten.