La Victoria, ein Armenviertel in Santiago, ist in ganz Chile und darüber hinaus bekannt – als Schauplatz der ersten organisierten Landnahme in Lateinamerika. Wie es dazu kam und wofür die Siedlung heute steht, darüber habe ich letzte Woche berichtet. Heute treffe ich Martina, einer der vielen starken Frauen von La Victoria.
Für sie ist La Victoria Chile – ihr ganzes Leben hat sie in der Siedlung verbracht. Auch ihre Großmutter und Mutter waren 1957 unter den ersten Landbesetzern. Sie selbst ist im Kindergarten, später im Hort von La Victoria großgeworden. Jetzt sitze ich mit ihr in ihrem winzigen Wohnraum, der ausgefüllt ist mit einer zerschlissenen Couch, einem fadenscheinigen Sessel und zwei Stühlen. Auf einem sitzt Martina und erzählt mir ihre Geschichte.
Eine Kindheit in Chile: Trotz Armut bin ich „gewachsen als Mensch“
„Alles was ich weiß und was wichtig ist, habe ich im Centro gelernt“, beginnt sie. Mit Centro meint sie die Kindernothilfe-Tagesstätte „Nuestra Senora de La Victoria“. Sie schildert die Armut, in der sie aufgewachsen ist, den täglichen Kampf um Essen, um Sicherheit. Und immer wieder, welch große Rolle die Gemeinschaft im Zentrum La Victoria für sie spielte.
Es sind kostbare Erinnerungen an das Chile ihrer Kindheit, die sie mit mir teilt. „Nach der Schule haben wir im Centro Aufführungen gemacht. Ich habe getanzt und einmal auch Flöte gespielt. Und meine Mutter kam extra hin und sah mir zu.“ Ihre Augen leuchten.
Jetzt ist sie selbst Mutter. „Ich konnte nicht studieren,“ meint sie und zupft an ihrem Pullover. „Aber ich bin gewachsen als Mensch.“ Was wichtig ist für ein gutes Leben, die Werte, wie man als Menschen miteinander umgehen soll und zusammenlebt, all das habe sie von Valentina, Alicia und den anderen im Zentrum gelernt. „Sie haben auf mich aufgepasst und mir Liebe gegeben.“
Medizinstudium statt Drogenkarriere – eine Zukunft für die Kinder
Die Liebe, die sie als Kind empfangen hat, gibt sie nun genauso ihren eigenen Kindern mit. Zwei Töchter und einen Sohn hat sie, sie sind 8, 11 und 17 Jahre alt. „Von Valentina habe ich gelernt, wie man seine Kinder erziehen soll“. Darum hat sie sie alle auch ins Centro geschickt. „Hier“, sie zeigt auf den 17jährigen Tomas und die 8jährige Daniela. „Das sind gute Kinder.“
Martina zieht sie alleine auf. Der Vater der Kinder sei drogensüchtig erzählt sie. Genau wie all seine Freunde. Die Drogen hätten, wie anderswo in Chile auch, in den letzten Jahren vieles im Viertel verändert. Da brauche man einen starken Willen, um nicht mitzumachen.
Ihr Sohn hat diesen Willen. Tomas will Medizin studieren. Heute geht er deshalb nicht zum Capoeira-Training in Zentrum. Er will sich ganz auf die Schule konzentriert. Denn auch in Chile gilt: Um ein Stipendium für das Studium zu bekommen, braucht es gute Noten.
Hobby: Gewichtheben
Martinas Tage sind ausgefüllt. Tagsüber hat sie eine Putzstelle bei einer Familie, dann kümmert sie sich um ihre Kinder, hat ein Unterstützungsnetz mit ihren Nachbarn geknüpft. „Wir helfen uns gegenseitig.“ Für sich selbst bleibt da nicht mehr viel Zeit. Nur eines macht sie, ganz für sich allein: Gewichtheben.
Martina ist eine der starken Frauen von La Victoria. Sie stemmt ihr Leben.