Die Menschen in La Victoria gehören zu den Ärmsten der Armen in Chiles Hauptstadt Santiago. Doch sie sind stolz darauf, dass sie sich diesen Ort zum Leben selbst erkämpft haben – gemeinsam, friedlich und sehr solidarisch. Die Erinnerung daran macht sie stolz, auch nach mehr als 60 Jahren…
Sie suchten Arbeit und ein menschenwürdiges Wohnen. Mit Mut, Stärke und Organisationstalent folgten sie ihrem Traum von einem Ort zum Leben: Bergarbeiter und Taglöhner, Familienväter und -mütter, Menschen, die sich in Gewerkschaften engagiert hatten und wussten, wie man eine Gemeinschaft organisiert. Im Morgengrauen des 30. Oktober 1957 machten sich 1.400 wohnungslose Familien aus den Armensiedlungen im Norden von Santiago de Chile auf den Weg. Angetrieben von dem Bewusstsein, dass es ein Recht auf menschenwürdiges Leben gibt, besetzten sie das Brachland im Sektor Chacra de Feria.
La Victoria wird geboren
Den Ort hatten sie sorgfältig ausgewählt: Er liegt in der Nähe der zentralen Großmarkthalle, wo es immer Arbeit für Lastenträger gibt, und nicht weit von einer Textilfabrik, wo Näherinnen gesucht wurden. Hier nahmen sie sich Land, gemeinsam und mit großem Gerechtigkeitsempfinden. Jede Familie sollte an diesem neuen Ort zum Leben den gleichen Anteil an Grund bekommen.
Anfangs schliefen sie im Schlamm unter Planen, errichteten nach und nach improvisierte Häuschen aus Holzbrettern und Wellblech – jede Familie auf 8 mal 16 Metern. Da war bereits klar, dass sich hier ein historisches Ereignis abgespielt hatte. Die Landnahme wurde von der Regierung akzeptiert. Alle Familien zahlten für ihr Stückchen Land. Und verbuchten es als einen Sieg der Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Ihre Siedlung nannten sie La Victoria.
Ein Ort für Kinder
Diese erste organisierte Landnahme in Lateinamerika ist auch 61 Jahre nach der toma, der Besetzung, fest im kollektiven Gedächtnis der Bewohner*innen verankert. Valentina, die die Kindernothilfe-Tagesstätte „Nuestra Senora de La Victoria“ leitet, erzählt mir davon. Die Geschichte von La Victoria ist auch ihre Familiengeschichte.
Valentinas Großmutter und Mutter gehörten zu den Pionieren, die 1957 das Land besetzten. Schon bald nach der Ankunft begannen die Frauen, einen Ort zum Spielen und Lernen für Kinder einzurichten. Aus der winzigen Holzhütte von damals wurde im Lauf der Jahre ein mehrfach erweiterter Komplex – ein Ort zum Leben für Kinder und Jugendliche. Auch der platzt mittlerweile aus allen Nähten, ein brand- und erdbebensicherer Neubau soll ihn bald ersetzen.
Ein geschützter Raum
Momentan finden 200 Kinder in der Kindertagesstätte Platz, die Hälfte von ihnen im Vorschulalter. Für die meisten ist das Centro Teil der Familie, die sie daheim nicht haben. Viele Kinder stammen aus zerrütteten Familien, in denen die Eltern wenig Zeit für sie haben. Im Centro finden sie einen geschützten Raum und Fürsorge.
Mehr als die drei Mahlzeiten am Tag, Körperpflege und medizinische Betreuung sind es die achtsame, liebevolle Betreuung und Förderung der Kinder, der respektvolle Umgang mit den kleinen und großen Bewohner*innen der Siedlung, die vielfältigen Beratungs- und Vermittlungsangebote für die ganze Familie – kurz: der ganzheitliche Blick auf die Menschen von La Victoria, die die Einrichtung auszeichnen. Und die diesen Ort zum Leben zu einem Teil der Identität der ganzen Siedlung gemacht haben.
Ein Ort zum Leben – die zweite Landnahme
Auch für die neu Zugezogenen. Ein Viertel der Kinder in La Victoria hat Migrationshintergrund. Ihre Eltern stammen aus Peru oder Venezuela, aus Haiti, Kolumbien oder der Dominikanische Republik. Für den Staat und weite Teile der Gesellschaft sind sie unsichtbar. Für ihre Fragen, die besonderen Herausforderungen, die sie zu bewältigen haben, gibt es kein Gegenüber. Bei Valentina und ihren Kolleginnen in La Victoria finden sie es. Die Siedlung bleibt auch dank des Zentrums 61 Jahre nach der ersten toma ein wichtiger Ankerpunkt für Menschen, die dem Traum von einem besseren Leben folgen.