Ich bin auf Projektreise in Chile. Mein Aufenthalt dort beginnt mit einer Mahlzeit. Aber es ist nicht irgendeine Mahlzeit, sondern eine, in der das ganze Land steckt: Cazuela – eine Suppe, die die Bezeichnung Nationalgericht mehr als verdient.
Als Gott die Welt erschuf, so erzählt eine chilenische Volksweisheit, habe er von all den Dingen, mit denen er die Welt erfreuen wollte, etwas übrig behalten: Vulkane, Urwaldstücke, Wüstenfetzen, Wasserfälle, Kupferberge, Fjorde und Eis. Er legte es hinter ein langes Gebirge am Rande des Ozeans in die hinterste Ecke der Welt. So sei Chile entstanden, das vielgestaltigste Land der Erde.
Auf Projektbesuch in diesem „letzten Winkel der Welt“ bekomme ich schon am ersten Tag etwas zu schmecken von den Dingen, mit denen Gott die Welt erfreuen wollte. Es gehört, wie ich höre, mit zum Besten, was man in Chile essen kann. Cazuela ist eigentlich nur eine Suppe. Und doch ist sie mehr. Sie steht für den vielfältigen Reichtum der chilenischen Erde.
Erdverbunden, herzhaft und frisch
Mit Kollegen sitze ich mittags (zwei Uhr ist die gängige Essenszeit) in einem kleinen Lokal mitten in Santiago. Auf die rot-weiß karierte Tischdecke vor mir stellt der Kellner einen dampfenden Teller Fleischbrühe. Wie aus einem See ragen aus der Suppe große Inseln aus Gemüse und Fleisch. Sie sind so farbenfroh und kontrastreich wie das Land: ein Stück sonnengelber Maiskolben, eine Scheibe oranger Kürbis, eine Riesenkartoffel und ein enormes Stück faseriges Rindfleisch, überstreut mit viel kleingeschnittener Petersilie. Darunter entdecke ich noch ein Bett aus Reis.
Erdverbunden schmeckt die Cazuela, herzhaft und frisch. Sie wird auch in anderen Ländern gegessen, erfahre ich. Aber so nahrhaft, frisch und – je nach Region – mit besonderen Gewürzen angereichert wie in Chile schmeckt sie nirgends. Sie ist mehr Hausmannskost als Haute Cuisine. Und wird geschätzt auch wegen ihrer starken Wirkung: bei Erkältungen, auf langen Reisen und sogar bei Liebeskummer soll die Suppe Wunder wirken.
Zur Cazuela gibt es natürlich Brot – wie zu jeder Mahlzeit in Chile. Je nach Region – das Land erstreckt sich über 4.200 km Länge und fünf Klimazonen – hat es verschiedene Formen und Zutaten. Aber es fehlt niemals auf einem Tisch. Brot ist verbunden mit der Geschichte, Kultur, Lebensart und Spiritualität des Landes. El Pan de Vida – das Brot des Lebens, wird in Gemeinschaft bereitet, geteilt, gereicht, genossen – und in die Suppe getunkt.
Cazuela und Brot – eine Mahlzeit, die die Vielfalt und den Artenreichtum des Landes genauso wie die solidarische Gemeinschaft der Menschen in Chile aufnimmt. Mir hat es geschmeckt.