Manche der Kinder, die sich auf den Müllhalden von Delhi als Müllsammler durchs Leben schlagen, sind gerade mal fünf Jahre alt. Als wäre das noch nicht genug, haben sich etliche bei ihrer gefährlichen Arbeit auch noch mit HIV/Aids infiziert. Unsere Partnerorganisation Deepti Foundation hilft ihnen, aus dem Kreislauf aus Armut, Hunger und Krankheit auszubrechen.
Letzte Woche habe ich von den Kinderschutzzentren berichtet, in denen Delhis Müllsammler eine Zuflucht finden – samt Waschgelegenheiten, regelmäßigen Mahlzeiten und Unterricht in Förderklassen. Vor vier Jahren wurde das Programm um eine entscheidende Komponente erweitert. „Es begann mit einem kleinen Jungen“, erinnert sich Father Thomas von unserer Partnerorganisation Deepti. „Er kam eines Tages in das Kinderzentrum, und zeigte uns seine Beine. Sie waren von oben bis unten mit schweren Schnittwunden übersät.“ Die stammten, erzählte der Bub als sei das etwas ganz Normales, von seiner Arbeit auf der Müllhalde. Dort hatte sich der neunjährige Müllsammler auf das Auflesen von Glasscherben spezialisiert. Und sich beim Waten durch die Müllberge nicht nur die tiefen Schnitte zugezogen. Sondern auch mit HIV/Aids infiziert!
Doppelt geschlagen: Müllsammler mit HIV/Aids
Der Junge blieb kein Einzelfall. Unsere Partnerorganisation Deepti Foundation betreut momentan vierzig mit HIV/Aids infizierte Mädchen und zwanzig Jungen. Viele der betroffenen Müllsammler sind Waisen, die Krankheit hat ihnen ihre Eltern genommen. Manche haben sich bei der Arbeit auf der Müllkippe an Metall- oder Plastikresten geschnitten und so die gefährliche Infektion zugezogen. Bei anderen sind Missbrauch und Gewalt durch Erwachsene die Übertragungsursache.
Ein regelmäßiger medizinischer Check, verlässliche tägliche Medikamentengaben sowie eine ausreichende, sorgfältig abgestimmte Ernährung sind lebensentscheidend für die Kinder. Hier bei Deepti erlebe ich, wie sie die notwendige medizinische Versorgung von Ärzten und Pflegekräften erhalten. Und sich mit der richtigen Behandlung ihre Lebenserwartung um ein Vielfaches verlängert.
Auch ein eigenes Hostel steht mittlerweile für die Müllsammler zur Verfügung. Das Haus für die Jungen besuche ich am Nachmittag. Siebzehn infizierte Jungen leben hier, gut zwei Autostunden von der Müllhalde entfernt, in einem Grüngürtel Delhis zwischen Bäumen und Feldern. Ein üppiger Gemüsegarten mit Tomaten, Okra und Auberginen gehört zur Anlage und beliefert die Küche des Hostels.
Neue Heimat im Grünen
Die Jungen, die hier eine neue Heimat gefunden haben, sind zwischen fünf und siebzehn Jahre alt. Heute ist ihr letzter freier Ferientag, bevor morgen die Schule wieder beginnt. Es geht quirlig zu in dem Raum, der auf einen lichten Innenhof blickt. Als wir näherkommen, drängen sich die Jungs an die Eingangstür.
Ob er der Jüngste sei, frage ich Rajesh, den Kleinsten der Gruppe. Er schüttelt den Kopf und zeigt mit seinen Fingern, wie alt er ist. Rajesh zählt zwölf Jahre. Der sechsjährige James überragt ihn um einen Kopf. Viele der Müllsammler-Kinder waren in den ersten Lebensjahren mangelernährt, erfahre ich. Darum ist ihr Wachstum verzögert oder dauerhaft reduziert, wie das von Rajesh.
Gleich nebenan entsteht das neue Wohnheim für die Mädchen. Noch wird daran gebaut, die Einweihung ist für den 1. Juli geplant. Bis dahin werden die Mädchen in einem der schmalen Häuser im Slum an der Müllhalde versorgt. Dort platzen die Zimmer aus allen Nähten. Hier im neuen Hostel sehen wir mehrere luftige Schlaf- und Aufenthaltsräume, die um einen eigenen offenen Innenhof errichtet sind. Die Mädchen können hier wohnen, erhalten medizinische Versorgung und Pflege und besuchen die Schule.
Ob sie denn ihre Freundinnen vermissen werde, wenn sie bald wegzieht, hatte ich eins der Mädchen am Morgen gefragt. Natürlich, meinte sie. Aber andere Freundinnen kämen ja mit, und es gebe regelmäßige Besuchsmöglichkeiten in ihre jetzige Siedlung. Auch diejenigen von ihnen, die noch ein Elternteil oder Familienangehörige haben, würden den Kontakt auf jeden Fall pflegen, ergänzt Vimal, ein Mitarbeiter von Deepti.
Ein Ort, um neuen Lebensmut zu schöpfen
Über eine noch unverputzte Treppe klettere ich ins Obergeschoss, wo gerade die künftigen Schlafräume gestrichen werden. Was für ein Kontrast zu den Slumhütten der Müllsammler heute Vormittag! Dort drängten sich – geschützt nur von ein paar zusammengeflickten Planen, Pappen und Blechen – ein halbes Dutzend Menschen auf vielleicht fünf, sechs Quadratmetern. Direkt vor der Plane, die ihre Unterkunft abgrenzt, beginnt die Müllhalde, türmen sich die ersten Haufen mit gesammelten Alufolien-Resten, ein anderer mit Lederriemen.
Was die Jungen und Mädchen hier in den Wohnheimen vorfinden, ist mehr als ein Leben ohne Müll. Es ist ein Ort, um neuen Lebensmut zu schöpfen. Nach einer Existenz der Ausgrenzung und Diskriminierung lernen sie nicht nur, mit ihrer Krankheit zu leben, sie zu akzeptieren und neues Selbstwertgefühl zu erlangen. Sie lernen auch Lebensfreude.