Ein Taifun macht uns einen Strich durch die Abreisepläne. Wir gewinnen dadurch Zeit bei unserem Partner Stairway Foundation. Heute ist dort Fernsehabend. Der endet mit Scherben – und trotzdem ganz friedlich…
Um 6 Uhr morgens wollten wir zum Hafen aufbrechen, von dort zurück auf die Hauptinsel Luzon, und dann mit dem Flieger nach Hause. Nachts erreicht uns die Nachricht: Ein Taifun der Kategorie 2 steht bevor – nichts fährt mehr. Nicht die kleinen Boote aus Puerto Galera, auch nicht die großen Katamaran-Fähren vom Haupthafen in Calapan. Morgen, am Sonntag erst, wird der sogenannte Landfall des Taifun erwartet: dann trifft er aufs Festland. Bis dahin ist keine Überfahrt möglich.
Wir fragen nach: Sind denn noch Privatboote unterwegs? Strictly no. Gibt es vielleicht die Möglichkeit, einen Platz in einem Wasserflugzeug zu ergattern? Lars hängt sich ans Telefon, versucht, für uns und zwei Stairway Mitarbeitende, die als Kindesschutz-Experten zu einem Seminar aufbrechen wollen, Plätze zu reservieren. Umsonst, der Taifun setzt uns fest. Also Planänderung. Auf Abruf und gepackten Koffern nutzen wir die Zeit für weitere Begegnungen und Gespräche im Projekt.
Vorsicht vor fallenden Kokosnüssen
Währenddessen nimmt der Sturm Geschwindigkeit auf. Zum Frühstück bläst er uns die Servietten vom Schoß, am Strand jagt er die Wellen, bis sie meterhoch schäumen. Eine Weile sitze ich noch auf der Veranda und schreibe Mails, dann ziehe ich mich vor der spritzenden Gischt in meine kleine Bambushütte zurück.
Um 9.30 Uhr beginnt es zu regnen. Kokosnüsse fallen mit lautem Knall von den Palmen. Sie sind gefährlich, warnt ein Hotelmitarbeiter. Von einer Kokosnuss erschlagen zu werden, sei eine häufige Todesursache auf den Philippinen. Der Bruder einer Köchin sei vergangenen Monat durch einen Kokosnuss-Schlag gestorben.
Taifun: Leben mit der Gefahr
Durchschnittlich 20 Taifune ziehen jedes Jahr über die Philippinen. Welch zerstörerische Kraft sie entwickeln können, zeigte im November 2013 der Taifun Haiyan. Mit 230 Stundenkilometern wütete er damals über die Inseln, zerstörte Schulen, Kindergärten, Wohnhäuser, Palmenplantagen und Fischerboote. 15 Millionen Menschen waren davon betroffen, davon vier Millionen Kinder. Sie standen bei den Hilfsleistungen der Kindernothilfe ganz im Mittelpunkt. Gleich zu Beginn bei der Betreuung und Versorgung in geschützten Zentren, später bei den umfangreichen Wiederaufbaumaßnahmen, die mit Kindergärten und Schulen starteten. Bis heute profitieren sie auch von den langfristigen Entwicklungsprojekten, die für ihre Familien und Gemeinschaften neue Einnahmequellen schufen.
Unbeeindruckt von dem bevorstehenden Taifun rüstet sich das Hotel bei uns für ganz andere Aktivitäten: eine Hochzeit steht an. Kleine Mädchen in weißen Kleidern hüpfen über die Restaurantterrasse, Verwandte in Baumwollanzügen und glänzenden Cocktailkleidern stärken sich mit Kaffee und Likör. Freunde des Paares filmen eine Strandhütte, sie soll wohl später als Honeymoon-Suite dienen. Und eine Musikband übt auf der Dachterrasse weithin hörbar und in Endlosschleife „I will survive“. Ob sich die Braut das Lied gewünscht hat? Oder der Bräutigam? Vielleicht ja auch seine Mutter ….
Aufklärung: Zeichentrickfilme, die unter die Haut gehen
Wir nutzen die Taifun-Wartezeit mit einer Kinostunde bei Lars und Monica, den Gründern der Stairway Foundation. „Red leaves falling“, „A good boy“ und „Daughter“ sind wesentliche Bestandteile von Stairway Aufklärungskampagnen. Die Zeichentrickfilme sind seit Jahren im Einsatz, in Schulklassen und auf Workshops, zur Schulung von Sozialarbeitern und zur Sensibilisierung von Lehrern, Gemeindearbeitern und Polizeibeamten. Die Texte stammen von Monica, geschrieben wurden die Geschichten vom Leben Tausender Kinder auf den Philippinen.
Der preisgekrönte Zeichentrickfilm „Daughter“ nimmt uns sofort mit in die Welt eines jungen Mädchens. Ihre Mutter arbeitet im Ausland – wie 10 Millionen Filipinos und Filipinas, die nur mit ihren Übersee-Gehältern die Familien daheim ernähren können. Zehn Prozent der Gesamtbevölkerung sind das. Bei der Abreise überträgt die Mutter der ältesten Tochter die Verantwortung für die jüngeren Geschwister und den Vater. Und der beginnt bald eine inzestuöse Beziehung mit dem Kind.
„Daughter“ sensibilisiert auf bewegende Weise für das Thema. Wie oft muss ein Kind einem Erwachsenen erzählen, dass es sexuell missbraucht wird, bevor ihm geglaubt wird? Die Botschaft des Films ist eindrücklich und eindeutig: hinsehen, hinhören und einschreiten, wenn Kinder sexuell missbraucht werden! Ich bin froh, dass wir als Kindernothilfe die Filmproduktion mit unterstützt haben.
Auch das Schicksal der zwei Schwestern in dem Animationsfilm „Red Leaves Falling“ steht beispielhaft für viele: Eine verarmte Familie gibt ihre Töchter einem Mann mit, der sie, statt sie wie versprochen zur Schule zu schicken, in ein Bordell zwingt. Am Ende des Films fasst sich eine Straßenfegerin, die schon lange ahnt, dass etwas Schreckliches in ihrer Nachbarschaft vorgeht, ein Herz und ruft die Polizei.
Heimkino mit Rechenaufgabe
Am Nachmittag steht fest, dass wir die Insel frühestens am nächsten Tag verlassen können. Aber Achtung: wenn der aktuelle Taifun durchgezogen sei, stünde bereits ein neuer, ein Supertaifun vor der Tür. Für eine sichere Abreise gäbe es also nur ein kleines Zeitfenster, hören wir aus dem Hafen. Nun denn, wir bleiben gelassen. Ein kleines Zeitfenster genügt ja.
Somit können wir noch einen Fernsehabend mit den Jungen von Stairway verbringen. Es ist ein Höhepunkt ihres Wochenendes: im großen Wohnraum von Monica und Lars dürfen sie freitags und samstags immer einen Film sehen. Die DVD-Sammlung ist groß, die Einigung auf einen Favoriten geschieht schnell. Auf bunten Stoffsäcken sitzend folgen sie dem Geschehen auf dem Bildschirm mit Lachen und mit Staunen, manchmal mit angehaltenem Atem und ein paarmal auch mit Augenrollen. Ganz normale Jungs, die Spaß an den Trickfiguren aus der Disneywelt haben.
Nur ihr „Eintrittsticket“ ins Heimkino war ungewöhnlich. Da begrüßte Monica jeden einzelnen Jungen an der Tür mit einer kleinen Rechenaufgabe: Drei plus zwei? Kurzes Überlegen. Fünf! Ja – einmal die rechte Hand abgeklatscht und ein stolzer Zwölfjähriger tigert zu seinem Fernsehkissen. Wer sich verrechnet, stellt sich nochmal hinten an. Natürlich schaffen es schließlich alle, sitzen dann selbstbewusst und fröhlich in der Runde.
Scherben bringen Glück
Am Ende des Abends verabschieden sie sich wieder mit Handschlag, einer nach dem anderen. Aber dann bleibt fast jeder noch bei einer flachen Schale am Ausgang stehen. Manche ziehen etwas aus ihrer Hosentasche und legen es hinein. Andere nehmen etwas aus dem Schale heraus, bewegen es in ihrer Hand, wechseln ein paar Worte mit Monica und ziehen dann in das Schlafhaus weiter.
Ich bin neugierig. Was liegt dort in der Schale? Monica zeigt es mit einem Lachen. „Das sind Glasscherben aus dem Meer“ erklärt sie mir. „Sie stammen von zerbrochenen Bierflaschen, kaputten Marmeladengläsern, versenkten Autofenstern. Das Meer hat sie mit der Zeit abgeschliffen. Jetzt sind sie weich und glatt und wunderschön. “
Ich schaue in die Schale: murmelklein bis handtellergroß sind die Glasobjekte, die dort liegen. Mal rund, mal herzförmig, flaschengrün oder durchscheinend. Jedes Teil ein Unikat. Die Jungs mögen diese glattgeschliffenen Glasteile. Sie waren mal Müll, zerbrochene Scherben, weggeworfen und scheinbar wertlos. Bei Stairway sammeln sie sie. Mit der richtigen Fassung werden sie hier zu richtigen Schmuckstücken. Lars und Monica kümmern sich drum.