Ein Besuch am Rande Europas (Teil 2): Die Schattenseite auf Lesbos
In „Ein Besuch am Rande Europas (Teil 2): Die Schattenseite auf Lesbos“ richten wir den Blick auf die dunkle Kehrseite der Insel, die für viele Geflüchtete zu einem Ort der Hoffnung werden sollte. Stattdessen finden sich hier Orte wie das Hochsicherheitslager Vastria und das Lager Mavrovouni, die von Isolation und Ungewissheit geprägt sind. Dazu kommt der Friedhof für verstorbene Geflüchtete, ein stiller Zeuge der vielen Leben, die auf der gefährlichen Überfahrt oder in der Fremde endeten. Diese Orte verdeutlichen die harten Realitäten und Herausforderungen, denen Schutzsuchende auf Lesbos tagtäglich gegenüberstehen, jenseits der wenigen Hoffnungsschimmer, die die Insel bietet.
Das Lager „Mavrovouni“
Die Historie von Lesbos ist geprägt von Exil und Vertreibung, von der Kleinasiatischen Katastrophe 1922 bis zur heutigen Flüchtlingskrise. Gegenwärtig leben viele Geflüchtete im Closed Controlled Access Centre (CCAC) Mavrovouni. Der Weg dorthin führt vorbei an Gedenkstätten und verblassten Inschriften, die die Realität abermals verdeutlichen: Mavrovouni ist ein vorübergehendes Heim für Menschen auf der Suche nach Sicherheit und einem neuen Anfang.
Geflüchtete auf Lesbos: Von der Kleinasiatischen Katastrophe bis zum Lager Mavrovouni
Das Flüchtlingslager Mavrovouni liegt am Rande der Inselhauptstadt Mytilini. Auf dem Weg dorthin lassen wir die Burg, das Wahrzeichen der Stadt aus byzantinischer Zeit, hinter uns. Wir fahren vorbei am Denkmal, das an die Kleinasiatische Katastrophe von 1922 erinnert: Mütter mit ihren Kindern auf der Flucht. Vorbei an einem Fabrikgebäude mit den schon verblassenden Appellen, vor Jahren gesprüht: „Close Moria! „Stop Deportation“, auf der Rückseite „No Borders“.
Nur die griechische Insel Kastelorizo liegt näher am türkischen Festland als Lesbos. Auf keiner Insel kommen mehr Geflüchtete an. Bis heute. Es sind circa 6000 Männer, Frauen und Kinder, die jeden Monat die Insel erreichen. Der Großteil von ihnen kommt aus Afghanistan, viele aus Syrien, Ägypten, Eritrea, Palästina. Aktuell sind sie im Closed Controlled Access Centre Mavrovouni, am Rande der Inselhauptstadt Mytilini untergebracht.
Vom Übergangslager zur festen Zeltstadt auf Lesbos
Das Lager Mavrovouni liegt direkt am Meer. Es wurde im Jahr 2020 nach dem Brand des Lagers Moria errichtet. Damals wurden bis zu 20.000 Menschen über Nacht obdachlos, die genaue Zahl kennt niemand, es gab keine geregelte Evakuierung. Das ehemalige Militärgelände Mavrovouni war nur als Übergangcamp gedacht. Mittlerweile ist es eine feste Zeltstadt mit Reihen von klimatisierten Containern. Anfang 2024 waren hier 6000 Menschen untergebracht, im September 24 sind es noch 1200. Die Zahlen schwanken, erfahren wir. Die Aufenthaltsdauer beträgt manchmal nur drei, vier Monate, bei anderen mehr als ein Jahr.
Ein Ort auf der Durchreise
Zwischen den Zelten ist es eng und heiß, ein weiterer Ort auf der Durchreise. Das ist kein Ort, an dem Schutzsuchende nach den Strapazen der Flucht Kraft tanken könnten.
Die Menschen, die hier auf ihren Asylbescheid hoffen, können nichts tun außer warten. „Ich würde gerne etwas arbeiten. Aber das dürfen wir frühestens nach zwei Monaten“ erklärt ein etwa fünfzigjähriger Mann. Er ist seit einigen Wochen im Lager und sitzt vor seinem Wohncontainer, als wir vorbeikommen. Zum Übersetzen ruft er einen jungen Mann aus dem Nachbar-Container, der neben Farsi auch Englisch spricht. Der Nachbar hat die mühsame Wartezeit bereits hinter sich: Gerade hat er seine Asylberechtigung erhalten. Nächste Woche geht es für ihn raus aus dem Lager – zu Familienmitgliedern nach Österreich.
Und die Kinder auf Lesbos?
Für Kinder gibt es, leicht erhöht auf einem Hügel, einen eigenen Bereich. Hier sind die Container bunt bemalt, dazwischen ein mit Sonnensegel überspannter Spielplatz. In einem der Container sitzen 10 bis 12-jährige Jungen und Mädchen mit Kopfhörern vor Tablets. Sie lernen Englisch, folgen den animierten Figuren des Sprachprogramms auf dem Bildschirm, tippen mit dem Finger auf vorgeschlagene Antworten. „Die Vormittagsgruppe mit den Kleinen ist schon durch“ erzählt uns die junge Frau, die als ehrenamtliche Helferin diese Sprachlerngruppe leitet. Sie hat sich von ihrer Arbeit dort sechs Wochen frei genommen, um hier Sprach- und Computerkurse zu geben. „Aus religiösen Gründen“.
Zwei Container weiter erfahren wir, wie der Schulbesuch der Kinder aus dem Camp koordiniert wird: Die Schüler und Schülerinnen werden jeden Tag mit Bussen auf die lokalen Schulen in Mytilini verteilt! Zehn Kinder aus dem Lager auf eine Schule mit circa 100 Schüler*innen ist der Schnitt. „Das erleichtert die Integration“. Ich bin beeindruckt.
Für Neuankömmlinge gibt es spezielle Nachmittagsklassen: zum Eingewöhnen, um die neue Sprache zu lernen, überhaupt zu lernen, wie Schule in Griechenland funktioniert. Dann geht es aber recht schnell in die regulären Vormittagsklassen der öffentlichen Schulen, wo sie auf Griechisch zusammen mit den Kindern aus Mytilini unterrichtet werden.
Mit der Last leben lernen
Auch für Erwachsene gibt es im Lager Angebote. Dazu gehört beispielsweise Rechtsberatung während ihres Asylverfahrens.
Auch Gespräche mit Psycholog:innen sind ein Angebot, das – in begrenztem Ausmaß – für die Geflüchteten zur Verfügung steht. Viele mussten während ihrer Flucht Erfahrungen machen, die sie zum Teil schwer traumatisierten.
Welche Erlebnisse von Flucht, Gewalt und Tod die Kinder im Lager mit sich tragen, zeigt sich manchmal in den Bildern, die sie malen. Bei manchen erschrecke ich angesichts der brutalen Szenen, die in schwarz und blutrot auf Papier gebracht wurden.
Vastria
Auf entsteht im abgelegenen Hinterland das umstrittene Hochsicherheitslager Vastria. Umgeben von unberührter Natur und einem Naturschutzgebiet, wird dieses EU-finanzierte Projekt kritisch betrachtet, da es von den Einheimischen und von den Geflüchteten abgelehnt wird.
Zwischen Naturschutzgebiet und Hochsicherheitslager: Die Entstehung des Lagers Vastria auf Lesbos
Raus ins Gebirge, raus aus der pittoresken Inselhauptstadt Mytilini mit ihren pastellfarbenen Villen, die vom früheren Reichtum des Olivenöl-Handels zeugen. Raus aus den engen Gassen der Altstadt mit ihren Tavernen, Cafés und bunten Lädchen. Raus ins unbewohnte Hinterland, hin zu einer der größten europäischen Großbaustellen, wo das künftige Hochsicherheitslager Closed Controlled Access Centre, kurz: CCAC Vastria entsteht. Wir fahren eine Dreiviertelstunde mit dem Auto. Anfangs sind da noch Dörfer, kleine Ansiedlungen, hier ein Schafstall, dort eine Umzäunung mit Ziegen. Irgendwann hört die asphaltierte Straße auf. Dann gibt es nur noch Felsen. Pinienwald. „Welcome in the middle of nowhere“ scherzt eine Kollegin. Links von uns liegt ein ausgedehntes Naturschutzgebiet, natürlicher Lebensraum des vom Aussterben bedrohten Schwarzen Pelikans. Rechts sehen wir im Talkessel die Baustelle des EU-Lagers Vastria: eine Festung, in der mehr als 5000 Menschen Platz finden sollen. Es gibt nur eine Zufahrtsstraße, keine emergency exit road und ein angemessener Evakuierungsplan ist nicht absehbar: wenn die Straße blockiert ist, führt kein anderer Weg heraus. Das kann, ganz wörtlich, brand-gefährlich werden. Um das Naturschutzgebiet vor Feuer zu schützen, wurden eine breite Brandschutz-Schneise in den Wald geschlagen. Den Pelikanen soll nichts passieren.
Kein Ort für Kinder: Die verheerenden Auswirkungen des Lagers Vastria auf Lesbos
142,4 Millionen Euro an EU-Geldern wurden hier bisher verbaut – in ein Projekt, in das niemand hier auf der Insel will. Für die Menschen, die sich nach Lesbos geflüchtet haben, ist der Ort ein Alcatraz ohne die geringste Chance auf Kontakt mit Menschen und dem Leben vor Ort. Kein Bus, kein Dorf, kein Supermarkt. Ende. Für Kinder heißt das: keine Möglichkeit, eine lokale Schule zu besuchen und im Kontakt mit Kindern vor Ort ein Stück Normalität zu erleben.
Wie oben schon beschrieben: derzeit werden die Kinder vom aktuellen Lager Mavrovouni am Rande der Inselhauptstadt Mytilini jeden Tag mit Bussen zum Unterricht gefahren, verteilt auf verschiedene Schulen im Stadtgebiet. Das funktioniert. Wenn die Geflüchteten jedoch nach Vastria kommen, ist es damit vorbei. Vastria ist kein Ort für Kinder!
Selbst das Personal, das für Vastria vorgesehen ist, möchte dort nicht arbeiten: Bitte nicht in Vastria.
Vastria auf Lesbos: Wer will es wirklich und warum?
Wenn alles dagegenspricht: Wer möchte Vastria? Die EU-Kommission verweist auf die griechische Administration, die den Ort ausgewählt hat und für die Umsetzung verantwortlich ist. Die EU zahlt, aber die Details seien bitte vor Ort zu klären.
Auf Lesbos höre ich verschiedene Geschichten. Von dem großen Druck der Jahre 2015/2016, als sich eine Million Menschen auf die Insel (die selbst nur 86.000 Bewohner*innen hat) retteten. Dem Druck, eine große Lösung bieten zu müssen. Ich höre auch: Es gab andere Vorschläge, von lokalen Vereinen und NGOs, Geflüchtete dezentral unterzubringen, über die Insel auf verschiedene Kommunen verteilt. Große Teile der Zivilgesellschaft waren bereit und willig, sich vor Ort mit einzubringen. Das wäre für einen Bruchteil der Baukosten von Vastria möglich gewesen. Durchgesetzt wurde Vastria. Wer verdient daran?
Vastria im Wartestand
Das Lager Vastria steht im Wald und wartet. Es sollte bereits vor zwei Jahren eingeweiht werden. Die Inbetriebnahme wird seitdem immer weiter verschoben. Es mag technische Gründe dafür geben. Sicher ist: kein Mensch will nach Vastria.
Der Friedhof
Die gefährliche Überfahrt vom türkischen Festland zur griechischen Insel Lesbos ist für viele Geflüchtete die einzige Hoffnung auf ein besseres Leben. Diese wenigen Kilometer stellen jedoch eine immense Herausforderung dar, bei der zahlreiche Menschen ihr Leben aufs Spiel setzen. Die grausame Realität dieser Überfahrten zeigt sich sowohl in den tragischen Todesfällen als auch in den Bemühungen, den Verstorbenen Würde und Identität zurückzugeben.
Die gefährliche Überfahrt: Vom türkischen Festland nach Lesbos
Es liegen nur ein paar Kilometer zwischen dem Festland der Türkei und der Insel Lesbos. Die Häuser auf der anderen Seite der Ägäis lassen sich mit bloßem Auge erkennen. Keine große Strecke. Für Menschen, die vor Krieg und Armut fliehen und die versuchen, mit Booten auf die griechische Insel überzusetzen, bedeutet die Fahrt die Chance auf ein neues Leben.
Seit Jahren fliehen Menschen auf die Insel und seit Jahren sterben sie auf dem Weg
Hunderttausende riskierten in den letzten Jahren auf der Reise nach Lesbos ihr Leben. Ohne Garantie, oft nachts und bei widrigen Wetterbedingungen. Wer Glück hat, kommt an Stränden an, wo Freiwillige und NGO-Mitarbeitende sie erwarten. Doch nicht alle erreichen das rettende Ufer. Es gab Jahre, wo bis zu 1600 Menschen pro Tag es bis zur griechischen Küste schafften. Und gleichzeitig dutzende Menschen ertranken.
Wer kümmert sich um die Verstorbenen auf Lesbos?
Efi Latsoudi führt uns zum Friedhof der Geflüchteten. Die Gründerin von Lesvos Solidarity war auch Initiatorin für diesen Ort, eine Lichtung in den Olivenhainen nahe der Inselhauptstadt Mytilini. Efi erinnert an die Jahre 2015/2016, als sich mehr als eine Million Menschen auf die Insel flüchteten. „Viele ertranken, andere starben im Lager. Der Ortsfriedhof im Zentrum kam schnell an seine Grenzen. Die Kühlräume waren überfüllt.“ Es brauchte dringend einen Ort, wo die Ertrunken nicht verscharrt, sondern bestattet werden. Und: Angehörige sollten die Chance bekommen, auch später noch ihre Familienmitglieder zu identifizieren. DNA-Proben, Fotos, persönliche Gegenstände sollten gesichert werden. Es brauchte Aufzeichnungen: wer ist wo begraben, damit auch später noch Identitäten geklärt werden können.
Den Toten ihren Namen geben
Wir laufen über das Gräberfeld. Fast zweihundert weiße Betonumfriedungen, darauf weiße Kieselsteine. Auf jedem Grab eine rote Rose aus Plastik. Die meisten Gräber tragen keinen Namen. Und doch: Den anonym Verstorbenen ihren Namen zurückzugeben und damit ihre Würde, das gelingt immer wieder. Wenn die schmerzhafte Suche von Angehörigen nach ihren vermissten Eltern, Geschwistern oder Kindern Erfolg hat. Dann wird über dem „unknown“ auf dem Grab eine Namensplatte befestigt. So wie bei dem Grab der drei am 28. August 2023 ertrunkenen Kinder. Die vormals anonyme Grabstätte zeigt jetzt: hier liegen drei Menschenkinder, Geschwister. Sie haben einen Namen und eine Geschichte. Die zehnjährige Badra, „schön wie der Vollmond“. Der sechsjährige Abdirahman, der einen der 99 Namen Gottes – der Barmherzige – trägt. Und der fünf Monate alte Nashad. Ich kann die Umstände seiner Geburt nur erahnen. Der Name, der ihm auf der Flucht gegeben wurde spricht für sich: „Unglück“.
Nashad, 5 Monate alt. Abdirahman sechs Jahre. Badra zehn Jahre. Sie wurden geliebt und werden vermisst. Davon zeugt das Herz aus Stein auf den weißen Kieseln ihres Grabes: Love – Hope – Peace.
Ein letzter Wunsch erfüllt: Die Rückkehr von Verstorbenen zu ihren Familien
Manchmal, erfahre ich, werden die sterblichen Überreste eines Verstorbenen auch in sein Herkunftsland zurücküberführt. Zu der Familie, die vorher alles dafür getan hatte, dass wenigstens einer von ihnen den Weg in die Freiheit schafft. Jetzt soll dieser eine nicht anonym und alleine in der Fremde begraben bleiben.
Und manchmal gelingt einer Toten das, was ihr als Lebender versagt geblieben ist. Wie einer Mutter, die zu ihrer in Schweden lebenden Tochter wollte. Sie schaffte es aus Afghanistan heraus bis nach Lesbos. Ein Visum für Schweden bekam sie dort nicht. Nicht zu Lebzeiten. Sie starb im Lager. Für ihren Leichnam erhielt die Tochter ein Visum und die Reisegenehmigung. Ihre Mutter ruht nun in Schweden.