La Victoria hat in seiner Geschichte viele Siege erfochten. Den Chilenen bleibt das Viertel in der Hauptstadt Santiago vor allem in Erinnerung, weil hier der Widerstand gegen die Diktatur besonders hartnäckig war.
Auf den Straßen hängen noch die Girlanden. Gerade wurde hier der Gründungstag von La Victoria gefeiert, wie jedes Jahr ein großes Fest, an dem Musiker, Künstlerinnen und Schauspieler aus ganz Chile teilnehmen. Während der Militärdiktatur war la Victoria berühmt als Hort des Widerstands gegen polizeiliche und militärische Übergriffe. Viele junge Bewohnerinnen und Bewohner dieses Viertels wurden gefangen genommen, gefoltert, verbannt und getötet.
Eines der Opfer war der junge Priester André Jarlan. Bei seiner abendlichen Bibellektüre am Schreibtisch streckte ihn eine Polizeikugel nieder. Seine Wohnung im ersten Stock über dem Versammlungsraum der Gemeinde ist noch immer so eingerichtet wie am Tag seiner Ermordung. Seine Schuhe, die Tasche stehen im Schrank, wie er sie hinterlassen hat. Auf der zersplitterten Schreibtischplatte liegt ein Bild des Getöteten, die Holzwand neben dem Tisch zeigt die zwei Einschusslöcher – als Mahnmal für den Widerstand.
„Draußen fuhren Panzer durch die Straßen“
Alicia führt uns herum. Sie erinnert sich noch ganz genau an diesen Tag. „Draußen fuhren Panzer durch die Straßen“, erzählt sie. Ein Gemeindemitglied war an diesem Tag schon erschossen worden. Viele drängten sich in den kleinen Versammlungsraum, teilten ihre Angst und Ratlosigkeit. „Wir wussten, dass die Militärs sogar den Präsidentenpalast bombardiert hatten. Den Präsidentenpalast! Wir hielten alles für möglich. Rechneten damit, dass auch bei uns bald Bomben fallen.“ André Jarlan ging nach oben, um seine Bibel zu holen. „Er wollte um Rat beten.“
Im Gemeinderaum hängt ein Bild von Jarlans Mitbruder, Pierre Dubois. Er wurde später wegen seines hartnäckigen Einsatzes für seine Gemeinde aus Chile vertrieben. Wie viele, die Widerstand leisteten und deshalb das Land während der Militärdiktatur verlassen mussten, kehrte er erst wieder zurück, als die Demokraten 1990 die Regierung übernommen hatten.
Widerstand aus Tradition
Die Erinnerung an André Jarlan und seinen Einsatz für die Gemeinschaft, im Familienzentrum La Victoria wird sie wachgehalten. „Sie gehört zur Tradition dieses Ortes“ erklärt mir Alicia, eine der Leiterinnen des Zentrums. Und diese Traditionen sind wichtig. Denn Gewalt sei auch heute ein großes Thema der Gesellschaft. Sie bestimme die Bedingungen, unter denen die Menschen hier leben. „Aber deshalb können wir sie trotzdem nicht akzeptieren.“
Es sei doch verrückt, echauffiert sie sich: „Wenn ein Drogenhändler stirbt, fallen die ganze Nacht Schüsse und gehen Feuerwerke in die Luft.“ So verabschiede man halt einen Gangsterboss, meinen manche, denn so ein Boss tue doch auch manch Gutes in der Community.
Sie schüttelt den Kopf. „Unsere Botschaft an die Kinder ist eine andere. Wir gehen am Todestag von André Jarlan auf die Straße. Wir malen Plakate, erinnern an seinen Einsatz für die Rechte der Menschen.“ Aufrecht steht sie vor mir. „Das sind wirkliche Helden.“
Alicia und ihre Kolleginnen leisten Widerstand. „Wir glauben, dass wir etwas verändern können.“