Mercator und die Flucht

Jahrhundertelang bestimmte seine Projektion unsere Weltsicht. Dem Geograph und Kartograph Gerhard Mercator gelang es vor über 500 Jahren in Duisburg als Erstem, die gekrümmte Erdoberfläche als ebene Karte darzustellen. Er ging dabei in etwa so vor, als würde er eine Orange schälen und die Schalen dann flach auf den Tisch pressen. Seine so geniale wie einfache Idee: Er zog die Längengrade der Erde an den Polen wie Kaugummi auseinander, bis sie allesamt zueinander parallel verliefen. Rechtwinklig dazu zeichnete er anschließend die Breitengrade ein. Deren Abstand zueinander ließ er zu den Polen hin anwachsen, den Norden und den Süden blähte er auf.

Jeder Atlas, jede GPS-gesteuerte Navigation oder Google-Maps-Karte beruht auf Mercators Projektion. Was zur Orientierung auf Reisen nach wie vor hilfreich ist (bis heute orientieren sich Schiff- und Luftfahrt an seinem System der Längen- und Breitengrade), hatte für unser Weltverständnis fatale Folgen. Denn mit Mercators Perspektive sind Verzerrungen und falsche Größenverhältnisse verbunden: Die Mercator-Projektion zeigt Europa als Zentrum der Welt.

Ein eurozentrischer Blick bestimmt auch unsere aktuellen politischen Debatten zu Flucht, Migration und Asyl. Während Menschen vor Krieg, Verfolgung, Hunger und Folter fliehen, während Kinder nicht nur ihre Heimat, sondern auch ihr Recht auf Leben und Entwicklung verlieren, fällt vielen europäischen Staaten  keine andere Antwort ein als Abschottung, Zäune und Mauern.

Es ist eine Schande für Europa. „Wenn 500 Millionen Europäer keine fünf Millionen oder mehr verzweifelte Flüchtlinge aufnehmen können, dann schließen wir am besten den Laden „Europa“ wegen moralischer Insolvenz“, echauffierte sich unser früherer Stiftungsratsvorsitzender Norbert Blüm.

Als „beklemmend und empörend“ verurteilte Manfred Rekowski, Flüchtlingsbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland und Präses der rheinischen Landeskirche, was er kürzlich auf Erkundungsmission in Malta erlebte, nämlich wie Seenotrettungs-Schiffe an der Ausfahrt gehindert werden.

„Früher hat man Lebensrettern Medaillen  angeheftet, ihnen öffentlich gedankt. Heute müssen sich Lebensretter wie der Kapitän der Lifeline, Claus-Peter Reisch, vor Gericht dafür verantworten, dass sie Menschen vor dem Ertrinken bewahren. … Das Selbstverständliche ist, wenn es um Flüchtlinge geht, offenbar nicht mehr selbstverständlich“, konstatiert Heribert Prantl in seiner wöchentlichen Videokolumne. „Selbstverständlich war es seit jeher, dass, wer sich in Not befindet, Hilfe braucht. Und dass ihm Hilfe geleistet wird. Ganz gleich, wie derjenige  in die Notlage gekommen ist.“

Geht die Zeit des Flüchtlingsschutzes in Europa zu Ende – 69 Jahre nach der Verkündung des Asylgrundrechts und 67 Jahre nach Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention? Es scheint so, dass ein eurozentrischer Blick die Politik prägt. Es gibt keine Regierung in Europa mehr, die  das Asylrecht offensiv verteidigt,

Dafür aber eine wache und engagierte Zivilgesellschaft! Hier ist bei vielen das Bewusstsein für den Wert von Asyl und Flüchtlingsschutz hoch. Da sind couragierte Bürger*innen, die sich stark machen für ein Asylrecht, das den Namen wert ist. Die für Mitmenschlichkeit auf die Straße gehen, die #ausgehetzt gegen Angriffe auf die Menschenrechte demonstrieren und keine Angst haben vor einer gemeinsamen Zukunft. Die genau solch eine gemeinsame Zukunft  für möglich halten und die wissen, dass Entrechtung durch den Abbau von Asylrecht nur zu noch mehr Elend führt und nichts löst.

Unsere Gesellschaft bewegt sich. Dazu passt der Brief dreier Oberbürgermeister in NRW an die Bundeskanzlerin, in dem sie auf die schreckliche Situation in und am Mittelmeer aufmerksam machen und humanitäre Hilfe für Geflüchtete durch ihre Rheinstädte anbieten. Mittlerweile hat sich auch Potsdam der Initiative zur Aufnahme geretteter Flüchtlinge aus Seenot angeschlossen.

Vielleicht schließt sich auch die Stadt Duisburg noch an. Es wäre ein starkes Zeichen für den Übergang von Mercators eurozentrischer Perspektive hin zu einem weltoffenen Blick.

Autor: Katrin Weidemann

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert