Die Nummer ist leicht zu merken. Kinderleicht. Es muss einfach sein, sich daran zu erinnern, wenn etwas Schlimmes passiert. Darum ist das brasilianische Notfalltelefon für Kinder mit einer einfachen 100 zu erreichen. Von allen Kindern des Landes kennen die Mädchen und Jungen aus Simões Filho die 100er Nummer am besten. Zumindest nutzen sie sie am häufigsten. Denn ihre Stadt gehört zu den gefährlichsten in ganz Brasilien.
Nur knapp 120.000 Menschen leben in Simões Filho. In Sachen Gewalt kann die Kommune es aber mühelos nicht nur mit der angrenzenden Großstadt Salvador de Bahia aufnehmen, sondern auch mit Millionenmetropolen wie Rio de Janeiro oder São Paulo. Eine jährlich durchgeführte Studie zur Entwicklung der Gewaltsituation in Brasilien kam 2015 zu dem Ergebnis, dass Simões Filho zu den beiden Landkreisen mit den höchsten Mordraten und dem häufigsten, tödlich endenden Einsatz von Schusswaffen gehört. Laut Auswertung der 100er-Anrufe nimmt Simões Filho den schrecklichen Spitzenplatz allerdings ein als Bezirk mit den meisten Anzeigen zu sexueller Gewalt.
Die gut 40 Jugendlichen, die ich heute treffe, beteiligen sich seit eineinhalb Jahren an einem Projekt unseres Kindernothilfe-Partners zur Prävention von sexueller Gewalt und Ausbeutung. Zusammen mit einem Dutzend Erwachsenen sitzen sie in dem großen Saal des katholischen Gemeindezentrums, in dem die Projektgruppen eine räumliche Heimat gefunden haben. Was das Projekt für sie bedeutet und warum sie sich hier engagieren, machen sie gleich in der Vorstellungsrunde deutlich.
„Ich mache mit, weil wir ein großes Problem in der Stadt haben“ beginnt die fünfzehnjährige Ana. „Es gibt viele Vergewaltigungen von Kindern. Dagegen wird zu wenig getan. Unsere Hauptaufgabe als Gruppe ist, zu verhindern, dass Kinder Gewalt erfahren.“ Auch Verônica, 14, findet das Projekt extrem wichtig. „Wir sind alle in Gefahr, Opfer von sexueller Gewalt zu werden. Darum sprechen wir in unserer Gruppe über die Risiken und Gefahren. Das Tollste hier ist: Da kann ich Dinge ansprechen, die man sonst nicht anspricht.“
Den „Pakt des Schweigens“ brechen
Ana und Verônica verstehen sich als „Protagonista“. Ihnen geht es darum, Klartext zu reden über das, was um sie herum passiert. Vielfach haben sie erlebt, dass Familien, Nachbarn, Lehrer und Freunde Anzeichen und konkrete Hinweise auf ein Gewaltverbrechens ignorieren und sich in Schweigen hüllen. „Wir erlauben es nicht, dass Erwachsene den Mund halten. Wir müssen reden und das Schweigen brechen. Auch wenn es weh tut.“
Die Reihe ist mittlerweile an Maria. Sie steht auf und nennt ihren Namen, 13 Jahre sei sie alt, erklärt sie. Dann macht sie eine Pause. Bevor sie weiterspricht, atmet sie tief ein und aus. Einmal. Zweimal. Warum ist es so schwer, über sexuelle Gewalt zu reden, fragt sie in die Runde? Sie ringt um Fassung. Einatmen und ausatmen. Mit tiefen Atemzügen versucht sie, ihre Emotionen zu kontrollieren. Ich weiß es, setzt sie wieder an. Ich habe erlebt, wie das ist … Sie schließt kurz die Augen, holt noch einmal tief Luft und schüttelt dann den Kopf. Maria setzt sich wieder, um kurz darauf den Saal zu verlassen, begleitet von der Psychologin des Projekts. Von der erfahre ich später, dass Maria sich vor vier Wochen ihrer Gruppe anvertraute. Sie wurde von einem Nachbarn vergewaltigt. Fälle wie die von Maria kommen immer wieder vor. 200 Kinder und Jugendliche erreicht unser Projekt jährlich, 1000 Kinder in fünf Jahren. Seit Projektstart wurden vierzig der Teilnehmenden selbst Opfer von sexuellem Missbrauch.
„Ich spüre, dass sich etwas verändert hat“
Psychologische Begleitung und Betreuung durch ein kommunales Kriseninterventionsteam ist in Simões Filho bisher nicht vorhanden, obwohl die staatlichen Programme das für einen Ort dieser Größe vorsehen. Eines der Projektziele ist es deshalb auch, die lokalen Autoritäten hinsichtlich ihrer Verantwortung für den Schutz der Kinder und Jugendlichen zu mobilisieren.Eltern, Sozialarbeiter, Lehrkräfte – sie alle sind eingebunden in das Netzwerk des Projekts. „Ich spüre, dass sich etwas verändert hat“, meldet sich eine sichtbar bewegte Elternbeirätin und springt auf. „Vor eineinhalb Jahren wussten viele Jugendliche noch gar nichts von ihren Rechten. Sie hielten es für „normal“, dass der erste sexuelle Kontakt mit Gewalt verbunden ist. Das ist so ein Riesenleidensdruck hier am Ort. Aber jetzt habe ich die Hoffnung, dass sich durch die Jugendlichen was ändert. Was sie hier lernen und erfahren, das strahlt aus auch auf die anderen.“ Mit Tränen in den Augen setzt sich die Mittvierzigerin wieder.
Dass heute auch die für Kindesschutz zuständige Vertreterin der Stadtverwaltung in der Runde des Gemeindezentrums sitzt, verdanken wir Yolanda. Die Siebzehnjährige war schon mehrfach als Jugenddelegierte an Verhandlungen mit der Stadtverwaltung beteiligt. Auch an dem Konzept für das Projekt hat sie mitgeschrieben. Sie beeindruckt mich, wie sie unerschrocken und mit Vehemenz auf das Fehlen von sicheren Spiel- und Sportplätzen in der Stadt hinweist und Freizeit- und Kulturangebote einfordert. Ihr Herz schlägt vor allem für die Theatergruppe, in der sie Mitglied ist. Mit ihr tritt sie vor Kindern auf mit Stücken, die ermutigen, aufklären und aufzeigen, was man gegen Gewalt tun kann. Stolz zieht sie das Zertifikat, das sie als ausgebildete Promoterin für die Arbeit mit Kindern ausweist, aus ihrem Rucksack und zeigt es mir. Yolanda ist es auch, die uns am Ende die Lieder präsentiert, die die Jugendlichen in ihren Gruppen gedichtet haben.
Der „Beutel der Vereinbarung“
In den Texten, erklärt sie, stecke vieles von dem, was die Jugendlichen zu Beginn des Projekts in ihren „Beutel der Vereinbarung“ gefüllt haben. Ganz am Anfang hätten sie alle zusammengesessen, „und dann haben wir aufgeschrieben, was wir uns erhoffen. Wie es sein wird am Ende.“ Jede und jeder habe das für sich in eine bunt bedruckt Stofftasche gesteckt und die dann zugenäht. Jeder Beutel trägt nun die Beschreibung einer selbstbestimmten, sicheren Zukunft in sich. Erst ganz am Ende, zum Abschluss des Projekts, wird er aufgeschnitten.
Die Träume aus dem Beutel der Vereinbarung, ich darf sie heute schon einmal hören. Und bin berührt und begeistert davon, wie die Jugendlichen darin aller Gewalt und Misshandlung ein klares NEIN entgegensetzen. Es ist ein beeindruckendes Statement dieser Jugendlichen, die darauf bestehen: Wir lassen uns nicht zum Opfer machen. Wir nehmen unser Leben selbst in die Hand.
(Quelle: Jürgen Schübelin)
Yolandas Lied
- Wer bist du, dass ihr meint, zu können, was ihr tut.
Wir schleudern euch ein NEIN entgegen!
WIR SIND SIEGER, ohne selbst gewalttätig zu sein. - Leben ist Vertrauen,
Leben ist eine Überraschungskiste.
Pass auf, Bruder!
Ich habe gelernt, auf mich aufzupassen,
Träume möglich zu machen ist meine Mission.
Weder Gewalt noch Drogen werden wir zulassen.
Unser Ziel ist: Vertrauen und Wissen. - Die Träume wieder zu ermöglichen – jetzt ist es dran.
Jetzt ist der Moment, alles anders zu machen. Das wird uns allen helfen.
Wir als Jugend, die das Heft selbst in die Hand nehmen, geben den Stab dann an die nächsten.
Die Träume möglich zu machen, es bedeutet auch, mehr zu lernen voneinander.
Die Träume möglich zu machen, es bedeutet, unsere Gemeinschaft zu verteidigen.
Wir werden noch Projekte auf die Beine stellen, und es wird uns niemand aufhalten.
Wir sind die, die geben. Wir haben die Power.
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Name des Projekts: „Refazendo Sonhos“ („Verlorene Träume wiederbeleben“)
Wiedergeboren zu werden aus traumatischer Erfahrung heraus – es war ein Einfall der Kinder, einen Schmetterling als Symbol für ihr Projekt zu wählen.