Indien: Eine Oase mitten im Müll

Hunderte Familien leben vom Müll der indischen Hauptstadt. Auch viele Kinder verdingen sich als Müllsammler – ohne Aussicht auf Bildung und eine Arbeit mit geringeren gesundheitlichen Belastungen. Father Thomas will sie aus diesem elenden Kreislauf befreien – in mittlerweile fünf Kinderschutzzentren, die er mit unserer Unterstützung unterhält.

Nach zwei Stunden Staufahrt durch Delhi wird die Besiedlung dünner. Rechts entlang der Ausfallstraße erstreckt sich jetzt kilometerweit das gepflegte Grün einer Golfanlage. An der nächsten Ausfahrt wartet Father Thomas schon auf uns. Wir folgen seinem Wagen in Richtung der dampfenden Hügel,  aus denen helle Rauchsäulen aufsteigen.

In einem Reiseführer hatte ich gelesen, dass der Name  Delhi sich vermutlich von dem alten Hindustani-Wort dil für „Hügel“ ableitet. Die vor uns liegenden Aufschüttungen sind damit ganz sicher nicht gemeint. Das sind die Müllhalden der Millionenmetropole. Eine kontinuierliche Kolonne von Lastwagen transportiert beständig ihre stinkende Last auf das Gebirge aus Müll. Und das wächst weiter, mit jeder Wagenladung, die oben ausgekippt wird.

Müll: "Lebensraum" für Menschen und Tiere: Müllkippe in Neu-Delhi
„Lebensraum“ für Menschen und Tiere: Müllkippe in Neu-Delhi
Die Arbeit im Müll ist eine Sackgasse

Father Thomas arbeitet seit Jahren am Fuß der Abfallhalden. Dort, wo die Menschen im Müll leben und von ihm. Es sind meist Zuwanderer mit geringer Schulbildung. Ihre konstant steigende Anzahl in der schon jetzt mehr als 20 Millionen Einwohner zählenden indischen Hauptstadt führt zu einer ständigen Vermehrung von Elendsvierteln im Stadtgebiet. Aus Mangel an Arbeitsangeboten ist für viele Familien das Sortieren von Müll die einzige Möglichkeit zu überleben.

Es sind hunderte von Familien, die sich in den Slumvierteln rings um Delhis größte Müllkippe als Müllsammler verdingen. Gut 800 Kinder und Jugendliche, erzählt Father Thomas, gehören zu ihnen. Auch sie tragen als „ragpicker“ zum Lebensunterhalt ihrer Familien bei. Die Chance, diesem Leben zu entfliehen, ist gering.

„Nur 90 der Kinder sind in der nächstgelegenen staatlichen Schule eingeschrieben“, erzählt Father Thomas. Und ohne Bildungsangebote gebe es für die Jungen und Mädchen keine Aussicht, später eine Arbeit mit weniger gesundheitlichen Risiken und besserem Verdienst zu finden. Ein elender Kreislauf.

Die Müllsammler leben mit und von dem Müll. Für viele bleibt der Schulbesuch ein ferner Traum Die Schadstoffe, denen sie auf der Müllkippe ausgesetzt sind, verursachen schwere gesundheitliche Schäden.
Die Müllsammler leben mit und von dem Müll. Für viele bleibt der Schulbesuch ein ferner Traum Die Schadstoffe, denen sie auf der Müllkippe ausgesetzt sind, verursachen schwere gesundheitliche Schäden.
Kinderschutzzentren als Oasen mitten im Müll

Diesen Kreislauf gilt es zu durchbrechen. Fünf Zentren hat Thomas‘ Organisation mit Unterstützung der Kindernothilfe bereits eröffnet. In einem treffen wir gut vierzig Kinder in einem schmalen Innenhof. Eng gedrängt sitzen sie hier in Reihen auf bunten Matten. Hier finden sie einen Schutzraum, der ihnen eine echte Alternative zu der rauen Welt der Müllberge bietet. Nicht nur Waschgelegenheiten und regelmäßige Mahlzeiten, sondern auch informellen Unterricht in Förderklassen finden sie hier, der ihnen den Einstieg in das reguläre Schulsystem ermöglichen soll.

Eine der Beraterinnen des Zentrums berichtet davon, wie die Kinder anfangs – sei es bei Hunger, Unsicherheit oder einem Konflikt – oft kein anderes Verhaltensmuster kennen, als ihr Gegenüber zu schlagen. Das sei meist ihre erste Reaktion, viele hätten zudem ein Messer oder eine Rasierklinge bei sich, ein Schnitt in den Hals oder ein aufgeschnittener Arm komme durchaus vor. Es brauche Zeit und intensive Begleitung, um hier andere Lösungsmöglichkeiten einzuüben.

Jetzt sitzen vor allem die Mädchen der Vormittagsgruppe vor uns und singen ausgelassen. Stolz sind sie auf die kleine Aufführung für uns Gäste, bei der ein Mädchen im weißen Kleid göttinnengleich vor uns thront, während zwei Freundinnen sie kunstvoll umtanzen und dabei üppig Blumen streuen. Es ist eine Oase mitten im Müll, die wir hier erleben. Sie bietet den Kindern Raum zur individuellen Entfaltung.

Müll: Waschraum für die Bewohner des Armenviertels am Fuß der Abfallhalden
Waschraum für die Bewohner des Armenviertels am Fuß der Abfallhalden
Auch die Eltern machen mit

Ob es denn schwierig sei, die Kinder zu erreichen, frage ich Father Thomas? Und wie die Eltern auf das Angebot reagierten? Er gehe von Familie zu Familie, erzählt er, um in die Zentren einzuladen. 300 Kinder kämen mittlerweile regelmäßig. Es gibt eine Morgen- und eine Nachmittagsklasse, jeweils mit einer warmen Mahlzeit.

Und auch die Familienangehörigen träfen sich mittlerweile hier, nähmen an lokalen Festen und Freizeitaktivitäten teil. Die Eltern würden die Veränderungen an ihren Kindern deutlich wahrnehmen. Nicht nur die gewaschenen Gesichter, die bessere Gesundheit, weil sie medizinisch versorgt werden. Nein, sie erkennen die Freude, die ihre Kinder jetzt zeigten. Lebensfreude.

Ein Brief an den Premierminister

Ganz auf die Mithilfe der Kinder bei ihrer Arbeit im Müll verzichten können die meisten allerdings nicht. Aber, betont Thomas, die Eltern verstehen und unterstützen es, dass ihre Kinder durch die Bildungsangebote einmal einen Beruf erlangen können, mit dem sie später sich selbst und ihre Familie versorgen können.

Und dass sich die Lebensbedingungen rund um die Müllhalden dauerhaft ändern, dafür setzen sich die Kinder selbst ein. Mehr als 200 von ihnen haben sich – gestärkt von unserem Partner – in einem Kinderparlament organisiert. Ein Brief an den Premierminister brachte schon ersten Erfolg: den Bau einer neuen Schule vor Ort. Mehr Grün, eine Wasserleitung….es gibt noch vieles, was auf ihrer Agenda steht.

Müll: Unsere Projektarbeit ermöglicht es diesen Kindern, die Grundschule zu besuchen.
Unsere Projektarbeit ermöglicht es diesen Kindern, die Grundschule zu besuchen.

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Autor: Katrin Weidemann

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