Philippinen: Eine Himmelsleiter für Straßenkinder

Wenn sie zum ersten Mal hierher kommen, können sie kaum glauben, dass es so etwas gibt: einen Ort mit Menschen, die sich wirklich für sie interessieren. Doch die Stiftung Stairway auf der philippinischen Insel Mindoro ist genau so ein Ort. Für Straßenkinder ist sie eine unverhoffte Treppe aus dem Elend. Eine Himmelsleiter…

Eine architektonische Besonderheit in alten Münchner Häusern ist die sogenannte Himmelsleiter: eine steile, grade Treppe, die gleich mehrere Stockwerke miteinander verbindet. Eine meiner Lieblingstreppen befindet sich in der Alten Pinakothek, der fantastischen Gemäldegalerie, die der kunstsinnige König Ludwig I. einst in Auftrag gab. Die Meisterwerke von Rubens, Raffael und Rembrandt ziehen nicht nur Besucher aus aller Welt an, sondern begeistern auch eine Münchnerin wie mich immer wieder. Und dann noch dieses Treppenhaus! Der Blick von unten ins befensterte Oben erklärt von selbst, wie es zu der Namensgebung kam: Ich habe den Eindruck, die Treppe führt ins Unendliche, reicht scheinbar bis in den Himmel.

Heute geht es zu einer Himmelsleiter ganz anderer Art, die nicht weniger begeisternd ist. Für Jugendliche, die auf der Straße leben, öffnet sie ein Fenster in ein neues Leben.

Wieder Aufbruch in aller Herrgottsfrühe: im Hafen von Batangas nehmen wir eines der busähnlichen Fährboote und setzen auf die Insel Mindoro über. Die üblicherweise einstündige Fahrt dauert fast doppelt so lange, weil auf halber Strecke der Motor kollabiert und ein Ersatzmotor an den einzigen Tank des Boots angeschlossen werden muss. Sei’s drum. Um das Projekt der Stiftung Stairway auf Mindoro zu besuchen, wäre ich auch zwei Tage lang Boot gefahren. Das Gründerehepaar, der Däne Lars und die Amerikanerin Monica, haben ihr Lebenswerk „Treppe“ genannt. Im ländlichen Umfeld von Puerto Galera bietet Stairway für ehemalige Straßenkinder tatsächlich einen Ausstieg, der sie gradewegs raus aus einem Leben voller Missbrauch, Elend und Gewalt führt.

Für Straßenkinder in den Philippinen ein Ort der Zukunft und des Neuanfangs: die Stairway Foundation auf der Insel Mindoro
Für Straßenkinder in den Philippinen ein Ort der Zukunft und des Neuanfangs: die Stairway Foundation auf der Insel Mindoro
Die Schwächsten der Schwachen

Schätzungsweise 75.000 Kinder und Jugendliche leben allein in Manila auf der Straße. Um zu überleben, sammeln und verkaufen sie Müll, betteln oder stehlen sie. Und oft haben sie kaum eine andere Möglichkeit, als ihre kleinen Körper zu verkaufen. Sex for survival nennen sie das bei Stairway, Sex zum Überleben, im Austausch gegen oft nicht mehr als eine warme Mahlzeit. Manchmal werden sie von der Polizei aufgegriffen und in staatliche Kinderheime gesteckt, die eher Gefängnissen gleichen als einem Ort, an dem sich Kinder entwickeln und leben können. Wer dort landet, den erwartet eine Zelle, kaum etwas zu essen und das Gesetz des Stärkeren.

„Es sind die Schwächsten, die wir auswählen“, erzählt mir Lars beim Rundgang durch die weitläufige Anlage, die sich auf mehrere Terrassen über der Bucht von Puerto Galera erstreckt . Beinahe alle Jugendlichen aus der aktuellen Gruppe wurden vor ihrer Ankunft sexuell missbraucht. Hier auf der Insel Mindoro, weit weg von der Hauptstadt und ihren Schrecken, finden die Straßenkinder ein neues Zuhause. Siebzehn Jungs leben momentan in der familiären Gemeinschaft der Stiftung, der Jüngste ist neun Jahre alt, der Älteste 15. Sechs Monate bis zwei Jahre verbringen sie in diesem Bildungs- und Therapiezentrum.

Unbeschwert zu spielen, das müssen die Straßenkinder hier erst mal lernen
Unbeschwert zu spielen, das müssen die Kinder hier erst mal lernen
Die Treppe aus dem Elend ist steil

Vieles, was sie hier kennenlernen, ist neu für jemanden, der als Straßenkind aufgewachsen ist: Kleidung zu haben, die keine Lumpen sind. Ein geregelter Tagesablauf mit warmen Mahlzeiten. Medizinische Versorgung und Fürsorge durch Menschen, die sich wirklich für sie interessieren. In der geschützten Umgebung des Zentrums üben sie für sich ein, wie so ein neues Leben aussehen kann. Und das ist durchaus anstrengend: sich an Regeln zu halten, in feste Strukturen einzufügen. Auch, die eigenen Aggressionen besser zu kontrollieren. Sich und andere zu respektieren.

Schritt für Schritt üben sie. In kleinen Gruppen lernen sie Lesen, Schreiben und Rechnen – manche haben vorher noch nie eine Schule besucht. In einer Werkstatt und dem Garten des Centers lernen sie Fertigkeiten, die sie für ihr späteres Auskommen brauchen können. Und sie entdecken die eigenen Talente. In der Open Air Gemäldegalerie bewundere ich ihre Werke, die in den letzten Monaten entstanden. Gerade das Malen ist für viele eine Hilfe, um die Erlebnisse der Straße zu verarbeiten. Und eine gute Möglichkeit, einen Weg durch die Mauer zu bahnen, die die Kinder zu ihrem Schutz um sich herum gebaut haben.

Malen hilft den Straßenkindern, die traumatischen Erlebnisse ihres Straßenlebens zu verarbeiten
Malen hilft dabei, die traumatischen Erlebnisse der Straße zu verarbeiten

Im Eingangsbereich spielen nachmittags ein paar Jungs Tischtennis, ein weiterer spielt mit einem Hund. Sie sind erst seit zwei Monaten hier, erzählt er. Davor waren sie in einer staatlichen Einrichtung in Manila. Zu fünft haben sie sich dort eine Zahnbürste geteilt. Mehr mag er von dieser düsteren Zeit nicht sagen. Lars zeigt uns später Fotos, die er bei der Ankunft der Jungen gemacht hat: Unterernährt und ausgemergelt sehen sie darauf aus, krank und mit Hautproblemen. Von der Krätze ist jetzt nichts mehr zu sehen. Die inneren Narben, die der Missbrauch auf der Straße in ihnen hinterlassen hat, kann ich nur erahnen.

Straßenkinder spielen ihre Geschichte

Nach dem Abendessen erwartet uns ein echtes Highlight: Auf der Bühne des Zentrums, dem zentralen Begegnungs- und Aufführungsort, spielen ehemalige Straßenkinder ihre Geschichte. Vor einem zerbrochenen Spiegel („The broken mirror“ ist auch der Titel des Stücks) erzählen, singen, rappen sie, vom Missbrauch in der eigenen Familie, vom Leben als Loverboy für Touristen. Es sind beklemmende und zugleich anrührende Momente, die die jungen Erwachsenen, die mittlerweile im Projekt arbeiten, darstellen.

Am Ende der Aufführung sitzen sie am Bühnenrand den Zuschauern gegenüber und laden noch ein zum Gespräch. Ihre Botschaft, die sie uns mitgeben, ist eindringlich: Schaut nicht weg bei Gewalt und Missbrauch, schweigt nicht, sondern mischt euch ein. Ihr eindrücklicher Appell: „Break the silence!“

"Break the silence!": Auf der Bühne erzählen ehemalige Straßenkinder ihre Geschichte
„Break the silence!“: Auf der Bühne erzählen ehemalige Straßenkinder ihre Geschichte

Das Schweigen brechen und Missbrauch verhindern, dazu sind die Mitarbeitenden von Stairway auch auf den Straßen Manilas unterwegs, beraten Kinder und Jugendliche, klären auf und vermitteln. Bei lokalen Organisationen halten sie Vorträge und Seminare zu sexuellem Missbrauch, Prostitution, Verhütung, Kinderrechten und Gesundheit. In der vergangenen Woche habe er einen Vortrag in einem der regionalen Polizeiausbildungszentren gehalten, berichtet einer der Trainer. Er ist auch regelmäßig unterwegs, um Kindernothilfe-Partnerorganisationen im gesamten asiatischen Raum zu schulen. Damit auch sie ihr Wissen weitergeben und Kinder optimal schützen und stärken.

Eine Treppe, die aus dem Elend führt, braucht es an vielen Orten.

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Autor: Katrin Weidemann

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